Angriff auf die Bürgerrechte – wehren wir uns!

Die Bundesminister des Innen und der Justiz haben einen Kompromiss (Leitlinie) in Fragen der Vorratsdatenspeicherung ausgetüftelt.  Bald dürfen Ermittler auf einen riesigen Datenpool zugreifen:

Telefon- und Internetdaten der Bürger sollen künftig zehn Wochen lang gespeichert werden. Ohne Anlass und das von jedem Bürger. Daten aus Funkzellen, d.h. mit Standortdaten bei Handy-Gesprächen, sollen für vier Wochen gespeichert werden. Nicht gespeichert werden darf der Inhalt der Kommunikation, heißt es. Das gilt auch für die aufgerufenen Internet-Seiten und Daten von Email-Diensten. Persönlichkeits- und Bewegungsprofile sollen auch nicht erstellt werden.

Das Foto zeigt ein gelbes Kabel mit Anschluss.

Bereits das Bundesverfassungsgericht und auch der Europäische Gerichtshof hatten die Vorläufer der ersten Vorratsdatenspeicherungen gekippt mit der Begründung, das sei ein schwerer Eingriff in die Bürgerrechte mit einer „Streubreite, die die Rechtsordnung bisher nicht kennt“.

Nun liegt die Neuauflage in etwas abgespeckter Version erneut vor. Es bleibt dabei: Die Datensammelwut ist ein Eingriff in die Bürgerrechte. Wehren wir uns dagegen.

Ich bin dem Aufruf von Sascha Lobo, Kolumnist im Spiegel und Internetaktiver, gefolgt und habe Ralph Brinkhaus als Mitglied des Deutschen Bundestags auf Abgeordnetenwatch.de befragt, wie er zur Vorratsdatenspeicherung steht und warum.

Sollte er sich dafür aussprechen, hoffe ich, dass noch mehr Bürger ihn auffordern werden (wie ich auch), die Vorratsdatenspeicherung nicht zu unterstüzten. Das als Beitrag für die Wahrung unserer Bürgerrechte.

Das ist keine Frage, die in Berlin allein entschieden wird. Das geht uns alle an! Auch hier in Gütersloh. Wehren wir uns also!

Mehr auf Blickpunkt aus Gütersloh. 

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  1. Acht Mythen zur Vorratsdatenspeicherung

    Die Befürworter einer Vorratsdatenspeicherung führen seit Jahren, mit gewissen Modifikationen, immer dieselben Argumente ins Feld. Grund genug, die gängigsten Begründungsansätze einmal zusammenfassend unter die Lupe zu nehmen.
    Mythos 1: Die Vorratsdatenspeicherung ist zur Aufklärung von Straftaten unverzichtbar

    Befürworter der Vorratsdatenspeicherung behaupten seit Jahren, dass ohne dieses Instrument viele Straftaten unaufgeklärt bleiben, die man ansonsten aufklären könnte.

    Tatsächlich gibt es in keinem einzigen EU-Mitgliedsstaat (empirische) Belege dafür, dass die Vorratsdatenspeicherung zu einer erhöhten Aufklärungsquote geführt hat, obwohl sie in den meisten EU-Staaten über viele Jahre hinweg praktiziert worden ist.

    Eine Studie des renommierten Max Planck Instituts (MPI) für ausländisches und internationales Strafrecht weist auf diesen Umstand hin und bemängelt, dass eine zuverlässige Einschätzung des Nutzens einer Vorratsdatenspeicherung durch das Fehlen systematischer empirischer Untersuchungen erschwert würde. Gleichwohl deutet eine vom MPI durchgeführte rechtsvergleichende Betrachtung zwischen Deutschland und der Schweiz darauf hin, dass die in der Schweiz seit Jahren praktizierte Vorratsdatenspeicherung nicht zu einer systematisch höheren Aufklärungsquote geführt hat.

    Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte in dem Verfahren über die Rechtmäßigkeit der Vorratsdatenspeicherung den Verfahrensbeteiligten die Frage gestellt, aufgrund welcher Daten der Gesetzgeber den Nutzen der Vorratsspeicherung für die Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten einschätzen kann und ob es Statistiken gibt, die darauf schließen lassen, dass sich die Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten seit dem Erlass der Richtlinie verbessert hat. Die Kommission und die Mitgliedsstaaten waren nicht in der Lage, befriedigende Antworten auf diese Fragen zu liefern. Auch dieser Umstand dürfte dazu beigetragen haben, dass der EuGH die Richtlinie ohne jede Übergangsfrist rückwirkend für unwirksam erklärt hat, auch wenn das so nicht im Urteil steht.

    Der Nutzen einer Vorratsdatenspeicherung ist also nicht belegt. Man darf annehmen, dass ein tatsächlich messbarer positiver Effekt auf die Aufklärung von Straftaten von den Polizeibehörden längst offensiv als Argument in die Debatte eingebracht worden wäre. Ganz augenscheinlich gibt es diesen messbaren Effekt aber nicht, sondern nur subjektive Eindrücke von Polizeibeamten und Sicherheitspolitikern.
    Mythos 2: Die Vorratsdatenspeicherung dient nur der Bekämpfung schwerster Straftaten

    Politiker und hochrangige Polizeibeamte argumentieren zur Rechtfertigung einer Vorratsdatenspeicherung regelmäßig mit der Bekämpfung von Terrorismus, organisierter Kriminalität oder Kinderpornographie. Innenminister de Maizière sprach unlängst von der Bekämpfung “schwerster Verbrechen”. Diese Rhetorik ist grob irreführend. Das deutsche Strafrecht unterscheidet Verbrechen und Vergehen. Die Vorratsdatenspeicherung soll zur Bekämpfung schwererer Straftaten eingesetzt werden, zu denen auch eine ganze Reihe von Vergehen zählen. Es geht also keineswegs nur um die Bekämpfung von Verbrechen und schon gar nicht um schwerste Verbrechen.

    Wenn man mit Polizeibeamten über die Vorratsdatenspeicherung diskutiert, was ich mehrfach auch öffentlich getan habe, werden als Beispiele interessanterweise fast ausschließlich Fälle aus dem Betrugsbereich angeführt, insbesondere Fälle das Phishings. Es kann deshalb unterstellt werden, dass die Vorratsdatenspeicherung einen geringen Effekt im Bereich der Massenkriminalität haben könnte, aber wohl kaum im Bereich der Schwerstkriminalität. Das kann man den Bürgern in dieser Form natürlich nicht sagen, weil sich die Vorratsdatenspeicherung in der öffentlichen Diskussion nur mit der Notwendigkeit einer geringfügig verbesserten Bekämpfung von Massenkriminalität kaum mehr rechtfertigen ließe.

    In diesem Zusammenhang muss man sich auch bewusst machen, dass laut der Polizeilichen Kriminalstatistik 2012 ca. 70 % der Internetdelikte auf Betrugsstraftaten entfielen.

    Die Vorratsdatenspeicherung wird öffentlich mit der angeblichen Notwendigkeit der Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität begründet, obwohl man weiß, dass sie im Kern anderen Zwecken dient.
    Mythos 3: Bei der Vorratsdatenspeicherung werden nur Verbindungsdaten gespeichert

    Neben den Verbindungsdaten wurden bei der Vorratsdatenspeicherung auch sog. Standortdaten und Gerätekennungen (insbesondere die sog. IMEI bei Handys) gespeichert. Die unlängst vom EuGH für unwirksam erklärte Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung definierte die zu speichernden Daten folgendermaßen:

    Verkehrsdaten und Standortdaten sowie alle damit in Zusammenhang stehende Daten, die zur Feststellung des Teilnehmers oder Benutzers erforderlich sind.

    Die deutsche Regelung umfasste u.a. Anschlusskennungen, Beginn und Ende der Verbindung, die internationale Kennung des Anschlusses und die internationale Kennung des Endgeräts, die Angabe der Funkzellen des anrufenden und des angerufenen Mobilfunkanschlusses, IP-Adressen und E-Mail-Adressen.

    Malte Spitz, Politiker der Grünen, hat 2011 seinen Mobilfunkprovider auf Herausgabe der zu seiner Person gespeicherten Verkehrsdaten in Anspruch genommen. Geliefert wurden ihm schließlich 35.000 (!) Datensätze, die ein fast lückenloses Bewegungsprofil ergeben. Für den Zeitraum von Ende August 2009 bis Ende Februar 2010 wurden diese Daten von ZEIT-Online umgesetzt und mit im Netz verfügbaren Informationen (aus Twitter oder seinem Blog) zur Person von Malte Spitz verknüpft. Man kann damit für einen Zeitraum von 6 Monaten praktisch minutiös nachvollziehen, wo Malte Spitz sich gerade aufgehalten hat.

    Dass Verbindungsdaten umfangreiche Rückschlüsse auf die dahinter stehenden Personen und deren Aktivitäten erlauben, haben Wissenschaftler der Universität Stanford unlängst in einer Studie nachgewiesen. Aus der Kombination unterschiedlicher Daten lassen sich häufig umfassende Persönlichkeits- und Bewegungsprofile erstellen.
    Mythos 4: In Norwegen hat die Vorratsdatenspeicherung zur schnellen Aufklärung der Morde von Anders Breivik beigetragen

    Diese Behauptung hört man immer wieder, sie wurde sogar vom SPD-Vorsitzenden und Vizekanzler Sigmar Gabriel verbreitet. Richtig ist, dass Breivik unmittelbar nach der Tat noch vor Ort auf der Insel Utøya festgenommen wurde. In Norwegen gab es zu diesem Zeitpunkt außerdem überhaupt keine (umgesetzte) Vorratsdatenspeicherung, worauf Gabriel anschließend sogar von Netzpolitikern der SPD hingewiesen wurde.

    Von ähnlicher Qualität ist die Behauptung, die Morde der NSU hätten durch eine Vorratsdatenspeicherung (früher) aufgeklärt werden können. Für diese eher abwegige These gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Die Aufklärung der NSU-Morde ist vor allem durch ein Behördenversagen erschwert worden. Damit TK-Verkehrsdaten überhaupt zu Erkenntnissen hätten führen können, hätte man zumindest das Umfeld der Täter eingrenzen müssen, was den Behörden bekanntlich nicht gelungen war. Um nachträglich festzustellen, wer aus dem NSU-Umfeld unmittelbar vor oder nach den Taten mit wem telefoniert hat, hätte man die Daten mehr als 10 Jahre speichern müssen. Denn die Polizei hatte bis zum Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt Ende 2011 noch nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wer hinten den 10 Morden steckt und, dass es sich um dieselben Täter handelt. Und selbst dann hätte man zunächst feststellen müssen, mit welchen Mobilfunkverträgen die Mitglieder des NSU ab dem Jahr 2000 telefoniert haben. Ob sich hieraus aber überhaupt brauchbare Erkenntnisse hätten ergeben können, bleibt darüberhinaus zweifelhaft. Letztlich handelt es sich hierbei um eine wüste Spekulation, der es an jeglicher tatsächlichen Grundlage mangelt. Ausweislich einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts gibt es europaweit keine Erkenntnisse über einen Nutzen der Vorratsdatenspeicherung im Bereich der Terrorbekämpfung.
    Mythos 5: Ohne Vorratsdatenspeicherung können Straftaten im Internet praktisch nicht mehr aufgeklärt werden

    Dies wird von Vertretern der Polizeibehörden gerne als Argument angeführt. Diese Aussage wird bereits durch einen Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) widerlegt. Die Aufklärungsquote bei Straftaten mit dem Tatmittel Internet betrug im Jahre 2012 60,1 %. Die durchschnittliche Aufklärungsquote aller erfassten Straftaten lag nach der PKS im Jahre 2012 demgegenüber nur bei 54,4 %. Die Aufklärungsquote ist bei Internetstraftaten in Deutschland also auch ohne eine Vorratsdatenspeicherung überdurchschnittlich hoch.

    Wer so argumentiert, erweckt außerdem den unzutreffenden Eindruck, die Telekommunikationsunternehmen würden derzeit überhaupt keine Verbindungs- und Standortdaten mehr speichern. Das Gegenteil ist richtig. Die Speicherpraxis ist allerdings von Anbieter zu Anbieter sehr unterschiedlich und unterscheidet sich auch danach, ob es sich um einen Festnetz-, Mobilfunk- oder Internetanschluss handelt. Es gibt zu diesem Themenkomplex Erhebungen der Bundesnetzagentur und einen nicht offiziell veröffentlichten Leitfaden der Generalstaatsanwaltschaft München. Speziell im Mobilfunkbereich werden danach Verkehrsdaten regelmäßig für einen längeren Zeitraum von mindestens 30 Tagen, bei manchen Anbietern sogar bis zu 180 Tagen gespeichert. Solange bei den TK-Anbietern gespeicherte Daten vorliegen, können diese grundsätzlich auch beauskunftet werden. Auch ohne eine gesetzliche Regelung einer Vorratsdatenspeicherung liegen damit also Verkehrsdaten für einen gewissen Zeitraum regelmäßig vor.
    Mythos 6: Der Polizei müssen alle technisch möglichen Instrumentarien auch zur Verfügung gestellt werden

    Nein. In einem Rechtsstaat gibt es keine Strafermittlung um jeden Preis. Darin besteht nämlich gerade der Unterschied zu Unrechtsstaaten wie der DDR, die jede Form der Überwachung und Kontrolle des Bürgers für legitim hielten. Der Rechtsstaat muss auf eine Totalüberwachung verzichten und damit evtl. einhergehende Defizite bei der Kriminalitätsbekämpfung in Kauf nehmen. Die aktuelle Diskussion um die Praktiken amerikanischer und britischer Geheimdienste, in der man auch den BND nicht aus den Augen verlieren sollte, wirft ohnehin die Frage auf, ob die Trennlinie zwischen Rechts- und Überwachungsstaat nicht längst überschritten ist.

    In diesem Zusammenhang ist es auch notwendig, Instrumente wie die Vorratsdatenspeicherung nicht isoliert zu betrachten, sondern vielmehr eine Überwachungsgesamtbetrachtung anzustellen. Man erkennt dann, dass den Polizei- und Sicherheitsbehörden, eine ganze Fülle unterschiedlicher gesetzlicher Grundlagen für eine äußerst weitreichende Überwachung der Telekommunikation zur Verfügung stehen. Die Telekommunikationsüberwachung hat in Deutschland in ihrer Gesamtheit mittlerweile ein bedenkliches Ausmaß angenommen, das sich nur erfassen und bewerten lässt, wenn man sämtliche Befugnisse und Maßnahmen der TK-Überwachung in ihrer Gesamtheit betrachtet, was praktisch nie gemacht wird. Den meisten Bürgern ist das Ausmaß dessen, was der Staat tatsächlich darf und häufig auch über das gesetzlich zulässige Maß hinaus praktiziert, nicht ausreichend bewusst.
    Mythos 7: Eine verfassungskonforme Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung wäre problemlos möglich

    Bereits die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts hätte dem Gesetzgeber erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Das BVerfG verlangt hinreichend anspruchsvolle und normenklare Regelungen hinsichtlich der Datensicherheit, der Datenverwendung, der Transparenz und des Rechtsschutzes.

    Die Entscheidung des EuGH geht in entscheidenden Punkten aber noch über den Karlsruher Richterspruch hinaus. Anders als das BVerfG erläutert der EuGH auch nicht weiter, welche Anforderungen an eine grundrechtskonforme Regelung zu stellen sind, sondern beschränkt sich darauf zu begründen, warum die geltende Richtlinie unverhältnismäßig ist. Die Vorgaben des EuGH dürften kaum in rechtssicherer Art und Weise gesetzlich umsetzbar sein. Auch wenn der EuGH also eine Vorratsdatenspeicherung nicht per se für unzulässig hält, ist derzeit unklar, wie eine grundrechtskonforme gesetzliche Regelung aussehen müsste.
    Mythos 8: Deutschland hat durch die Nichtumsetzung der Vorratsdatenspeicherung nach dem Urteil des BVerfG gegen Europarecht verstoßen

    Nein. Der EuGH hat die Grundrechtsverstöße durch die Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung für so schwerwiegend erachtet, dass er die Richtlinie ohne Übergangsregelung rückwirkend für rechtsunwirksam erklärt hat. Es hat also zu keinem Zeitpunkt eine grundrechtskonforme und rechtswirksame europarechtliche Vorgabe für eine Vorratsdatenspeicherung gegeben. Durch das Urteil des EuGH hat sich vielmehr herausgestellt, dass Deutschland derzeit der einzige Mitgliedsstaat der EU ist, der die Vorratsdatenspeicherung korrekt umgesetzt hat, nämlich gar nicht.

    1. Vielen herzlichen Dank. Das ist ein schönes Kompendium, das ich gerne in der weiteren Diskussion mit aufnehme. Zudem habe ich mir die Leitlinie angesehen und werde jetzt mal konkret nachfragen, wie eigentlich die Ausnahmen von Berufsgeheimnisträgern praktisch aussehen sollen. Ich werde dazu berichten. Auf bald!

    2. Brandstifter im Feuerwehranzug

      Die heute von Bundesjustizminister Heiko Maas für die Große Koalition vorgestellte Verpflichtung zur Speicherung bestimmter Kommunikationsdaten (Leitlinie) kann man nennen wie man mag, sie ist ein grober politischer Fehler, dessen Konsequenzen in der Zukunft kaum absehbar sind.
      Das Geröll beiseiterollen

      Um den Vorschlag zu bewerten, muss man einiges der Diskussion der letzten Jahre gewissermaßen abtragen, um zum Kern des Problems vorzudringen. Da ist aktuell beispielsweise die Diskussion um die Benennung der Verpflichtung, die auf einer Ebene von politischer Überzeugung bzw. Vernebelung argumentiert, aber den Kern der Maßnahme nicht berührt. Da ist die Frage, was in anderen Ländern gesetzlich geregelt ist – leider a priori ohne den Nachweis bestimmter weiterer Punkte überhaupt kein Argument und nur ein Indiz für irgendetwas, das man benennen und beweisen müsste.

      Zu beobachten ist leider auch eine Verrechtlichung der Diskussion: Ob ein Gesetz durch das BVerfG kassiert wird oder nicht, wie diese Maßnahme überhaupt juristisch zu bewerten ist – und zwar selbst dann, wenn es sich um einen Grundgesetzverstoß handelt – ist eine Sekundärargumentation, die sich auf kodifiziertes Recht beruft und auf Instanzen, auf deren Verpflichtung man sich gewissermaßen geeinigt hat. Läßt man die auch philosophisch schwer entscheidbare Frage außen vor, ob Menschenrechte als Naturrechte sozusagen vorrechtlich gegeben sind (dagegen spricht immerhin, dass man offenbar über Umfang und Grenzen immer wieder streiten muss), bleibt Recht – ins Unreine gesprochen – die Summe von sozialen Normen, die man einigermaßen präzise schriftlich beschrieben hat, denen man in einem formalen Prozess Verbindlichkeit verschafft hat und deren Verstöße man ebenso verbindlich mit schweren Übeln gegen den Handelnden versieht. Wir haben uns aus guten, kulturellen Gründen angewöhnt, das oberste Gericht nicht nur wegen seiner Klugheit auf einen Sockel zu stellen, damit in der säkularisierten Gesellschaft überhaupt noch irgendeine Instanz wirklich be-frieden kann, allein das ändert aber nichts an der Struktur von Recht: Die Argumentation mit Recht ist immer ein Rekurs auf eine vorherige Einigung, weil das Recht älter als das ist, das gerade zur Debatte steht. Diese Einsicht bringt es mit sich, dass gerade mit dem gesetzgebenden Verfassungsorgan Diskussionen über Verstöße gegen höherrangige Normen etwas schwierig sind, denn das Organ selbst ist es, dem eigentlich als Repräsentant des Souveräns genau die Entscheidung der Frage obliegt, was künftig anders sein soll als bisher. Trifft es diese Entscheidung (im Rahmen früherer Entscheidungen anderer Organe -> Grundgesetzänderungen), so erfüllt es genau seine Aufgabe: Dieses Organ handelt eben durch Gesetze als seine Kommunikationen, es verändert den bestehenden Zustand.

      Und egal, ob man mit den Vertretern der Koalition der Meinung ist, ein Gesetzesentwurf sei „abgesichert“, weil er sich an der Innenseite der Rechtwidrigkeits-Demarkationslinie befindet, oder ob man mit mir einer Meinung ist, dass ein Gericht keine Rechtshilfe-Instanz für den Gesetzgeber sein darf, der freischwebend und außer-rechtsstaatlich ein maximales Sicherheits-Supergrundrecht umsetzen will, es bleibt immer beim selben Ergebnis: Recht und Politik sind miteinander verschränkt und verwoben, aber sie sind zweierlei, wie jeder politisch schwache Gesetzesentwurf zeigt, der nicht verfassungswidrig ist. Zu reden ist über Politik, und zu reden ist gerade dann über konkrete Normen, wenn über Prinzipien gestritten wird.
      Verfassungsgerichte erbringen keine Eignungsnachweise

      Wichtig ist Rechtsprechung als Indikator dafür, ob ein Handeln, eine Verwaltungsakt, eine Norm eine bisherige Linie überschreitet, auf die man sich verständigt hat. Das ist vom BVerfG in Bezug auf die Speicherung von Kommunikationsdaten bereits als rote Linie markiert worden. Doch selbst wenn die neue Regelung exakt an der verfassungskonformen Kante der roten Linie gebaut sein sollte, heißt das eigentlich nur, dass sie nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes nicht rechtswidrig wäre. Ob die Norm vernünftig, klug, politisch zielführend ist, hat das Gericht nicht geprüft und wird es auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht tun, es entspricht gar nicht seiner Rolle im Verhältnis zum Parlament als Gesetzgebungsorgan. In diesem Zusammenhang kann man gar nicht klar genug sagen: Auch das BVerfG hat nicht geprüft, ob die konkrete Norm Nutzen stiftet, Rechtsgüter tatsächlich schützt. Das BVerfG prüft nur, ob die Norm zu der vom Parlament behaupteten Zielerreichung überhaupt geeignet scheint, ohne selbst empirische Beweise zu liefern. Es handelt sich um eine grobe Plausibilitätsprüfung. Wie heißt es im Urteil aus 2010: „Diese erfordert nicht, dass das Regelungsziel in jedem Einzelfall tatsächlich erreicht wird, sondern verlangt lediglich, dass die Zweckerreichung gefördert wird (vgl. BVerfGE 63, 88 ; 67, 157 ; 96, 10 ; 103, 293 ).“ (BVerfG Rz 210).
      Ein Eingriff ohne Schutz

      Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt, der unter einem Geröllhaufen von Theorien und Wortgeklingel versteckt ist: Es gibt bis heute keine plausiblen empirischen Daten dafür, dass so eine Regelung, deren Qualität als Grundrechtseingriff unstreitig ist, überhaupt nützlich ist. Man muß, auch wenn man der Speicherung generell kritisch gegenübersteht, immerhin zugestehen, dass es im Einzelfall höherrangige Rechtsgüter geben könnte, welche die Speicherung rechtfertigen. Nur ist eben dies nicht der Fall. Eine Analyse des wissenschaftlichen Dienstes sieht keine Hinweise, ein Max-Planck-Institut hat das gleiche begutachtet und selbst die Zahlen der Polizei führen, wenn man sie denn glaubt, zu keinen signifikant veränderten Aufklärungsquoten. Auch gibt es für durchweg alle schlimmen Taten, welche die Öffentlichkeit erregten (von NSU bis German Wings) keine Hinweise darauf, dass diesen Taten hätten verhindert werden können, im Gegenteil: Die typische zeitliche Abfolge von Hinweis-Faktum und Daten-Einsichtnahme kann weitgehend nur für eine Tataufklärung geeignet sein, nicht aber für eine Tatverhinderung. Nun wäre auch Tataufklärung ein durchaus ehrenwertes Ziel, aber wo sind die Fakten, die das belegen, wo eine solche Regelung schon existiert? Wir blicken in gähnende Leere, wo Substanz sein sollte. Man wird das Gefühl nicht los, „die da oben wissen, was wir nicht wissen sollen“, und das erzeugt einen erheblichen Vertrauensschaden, der in seinen Folgen gar nicht absehbar ist.
      Ein Gesetzestumpf, der Triebe zeugt

      Auch ist jede Diskussion um den Umfang der erhobenen Daten viel zu kurz gesprungen. Warum soll die Speicherung von Handydaten bei Telefonaten inklusive der Geoposition erlaubt sein, Voice-Over-IP (Skype etc.) aber nur, wenn es eine Anschlussteilnehmernummer gibt? Warum sind Daten von SMSen zu speichern, nicht aber von Whatsapp? Was macht Telefonate gefährlicher als andere Kommunikationsformen? Wir sehen: Hier wird ein Gesetzes-Stumpf geschaffen, auf dessen Platte, sobald ein wenig Moos gewachsen ist, neue Sprosse wachsen werden. Der Stumpf ist eigens dazu aufgestellt. Gerade hinter der offenkundigen Lückenhaftigkeit der Regelung sieht man die nächsten Bedarfe schon hervorlugen. Ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland jemals ein Grundrechtseingriff, der mit Sicherheitsbedürfnissen begründet wurde, offiziell zurückgebaut worden? Auch der ehrenwerte Hinweis auf den Richtervorbehalt und schwere Straftaten als Tatbestandsvoraussetzung ist wieder zu juristisch gedacht; sind die Daten einmal in der Welt, steht zu befürchten, dass sie auch angezapft werden – und dies keineswegs nur vom „ausnahmsweise“ durch den Richter ermächtigten Organ. Gerade angesichts der inzwischen offenkundigen Praxis des Abschnorchelns durch Auslandsgeheimdienste mit anschließendem Datenaustausch kann man so nicht mehr argumentieren, insbesondere, wenn auch Berufsgeheimnisträger betroffen sind. Will man, was gerade diskutiert wird, deren „Handles“ via Blacklist ausschließen, stellt man einen Honeypot gesondert bereit. Dies kann man kaum anders nennen als die flächendeckende Verbesserung von Geheimnisbruch durch Sonderqualifikation von Daten. Schon vor den Zeiten von Big Data hat man es „Veredelung“ genannt, heute spricht man von „Markieren“ der Betroffenen (etwa beim Retargeting).
      Ein Zombie-Gesetz, das neue Probleme erzeugt

      Gesetze, zumal solche, die kritische Grundrechtseingriffe beeinhalten, sollten einen gewissen Zeitraum überdauern, ohne obsolet zu werden oder eine Kette neuer Probleme hervorzurufen. Denkt man sich aber die nahe Zukunft, kommen doch erhebliche Zweifel: Bei welcher Art von Smartwatch wäre zu speichern Pflicht, bei welcher nicht? Ist so ein Gegenstand wirklich einem heutigen Handy vergleichbar, das ich eventuell zu Hause zu lassen gewohnt bin, während ich die Smartwatch immer am Körper trage? Was ist mit Telefonaten mit Smart-TVs, von denen wir in ein paar Jahren Millionen in den Wohnzimmern haben? Was machen wir mit Connected Cars, mit Wearables, mit dem Internet of Things? Man muss nur ein bisschen nachdenken und stellt fest: Dieses Gesetz ist jetzt schon von gestern, ein Zombie, von dem man nicht sagen kann, ob er schlaff zu Boden fällt oder uns von hinten in den Rücken hackt. Über zehn Jahre und mehr muss sich ein Gesetzgeber entscheiden, was die Grundlinie seiner „Sicherheitskonzepte“ sein soll.
      Wie sieht unser Entwurf einer Gesellschaft aus, die angemessen mit Daten umgeht?

      Angesichts der vielen Möglichkeiten, Kommunikation zu verschlüsseln, zu verstecken, durch Ad-hoc-Netzwerke dem Zugriff zu entziehen etc. sehe ich gar keine andere Möglichkeit, als eine binäre Entscheidung zu treffen: entweder schneidet man alles mit oder man lässt es. Wenn man es als Gesetzgeber lässt, wird man ohnehin immer mehr Datensilos und zunehmend mehr verteilte Systeme finden, die allerhand mitschneiden. Das ist die Praxis von 30 Millionen Facebook-Nutzern, die fleißig angegriffen, aber geflissentlich übersehen wird. Wer nicht absichtlich in den „Stealth Mode“ geht, wird Unmassen von Datenspuren hinterlassen.

      Für mich ist am Ende die Frage:

      Wie soll unsere Gesellschaft in zehn oder zwanzig Jahren mit Daten umgehen?

      Und ich mache keinen Hehl daraus, dass ich mir trotz eines eher ambivalenten Menschenbildes eine Gesellschaft wünsche, in der Menschen einander mehr vertrauen und daher Schritt für Schritt lernen, sich ein wenig zu öffnen. Das ist ein Zivilisierungsprozess, der individuell auch eine Antwort auf eine Gesellschaft sein kann, die immer fragmentierter und immer weniger regelhaft miteinander umgeht. Tatsächlich findet dieser Prozess ja auch längst statt, wenn man etwa die Datenpreisgaben auf Facebook betrachtet, wo beinahe jeder pseudonyme Nutzer inzwischen Information von sich veröffentlicht oder Dritten per Klick zugänglich macht, die außer seinem bürgerlichen Namen alles von ihm zeigen. Natürlich kann man auch den gegenteiligen Standpunkt vertreten: Das Private als Errungenschaft ist zu schützen, auszubauen. Paradoxerweise kommt man wohl mit beiden Standpunkten zum Ergebnis, dass eine Speicherungspflicht sozial eigentlich nicht erwünscht ist. Aber wie auch immer man zu dieser Frage steht: Ein Gesetzgeber, der diese Frage mittelfristig nicht beantwortet und kurzfristig halbgare Lösungen schafft, zündelt mit dem Feuer, gekleidet in einen Feuerwehranzug.

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