Die unbeantwortete Frage nach Quartiersentwicklung

Viele Städte kennen das: sie wachsen. Ihre Einwohnerzahl steigt. Damit auch der Bedarf an Wohnraum, an öffentlicher Infrastruktur, an Kümmern und Stadtentwicklung. Oft liegt der Grund im Wachstum an der Sogkraft durch Arbeitsplätze, die in diesen Städten entstehen – oder auch, weil eine alternde Gesellschaft Menschen anzieht, die im urbanen Raum ihr Altern mit Anbindung an kulturelle und versorgungstechnische Möglichkeiten der Stadt genießen möchten. Solche Wachstumsprozesse müssen moderiert werden.

Vielen Städten fehlt allerdings eine Antwort darauf, wie genau sie „wachsen“ wollen. Wachstum allein ist weder ein Erfolg, noch ein naturmäßig stattfindender Vorgang nach einem dem Wachstum eigenen inneren Plan, der allen gerecht würde.

Wachstum verläuft eher unter diesen Vorzeichen:

Nachverdichtung ist dabei ein gewichtiges Stichwort von vielen im Munde geführt. Die Quartiere werden bebaut, freie Fläche überplant, Grünes weicht, öffentlicher Raum unterliegt Kommerzideen. Wachstum mündet so in Gentrifizierung, also die Verdrängung von alten Strukturen sowohl in baulicher, umweltlicher als auch sozialer Hinsicht durch: teuer, edel, modern und kalt – ersetzen den gewachsenen Kiez. Die dabei auftretende menschliche Entwurzelung schmerzt, sowohl der Verlust an identitätsstiftender Bekanntheit von Architektur und deren eintrainierter Einordnung als auch das Weichen von menschlichen Netzwerken, Verlässlichkeit und Nachbarschaft mit allen Facetten und nicht zuletzt jeder erlegte Baum bringt Trauer. Gleichermaßen entsteht kein Wohnraum für sozial benachteiligte Gruppen, die mehr und mehr an den Rand gedrängt werden. Der Wunsch nach Rendite und Gewinnmaximierung überwiegt die Einhaltung von Umweltschutz, Baumschutz und Artenvielfalt und bezahlbarem Wohnraum. Wir kennen das als System des Marktes, der es richten soll.

Nach welchen Kriterien also sollten sich die Stadt-Quartiere im besten Fall entwickeln? Eine Mammutaufgabe der Bewältigung für Politik und Verwaltung.

Gleichermaßen ist die Erwartungshaltung vieler Menschen an Beteiligung, Mitgestaltung und Formate der Legitimation durch Verfahren in diesem Prozess des Wachstums gestiegen. Durch den Zugang zu Informationen ist die Zivilgesellschaft zudem angereichert mit Grundlagen und eigenen Vorstellungen von Quartiersentwicklung. Sie will selbst aktiv werden, sich eine Meinung bilden und Optionen der Gestaltung auch in den politischen Raum bringen. Der moderierte Ausgleich der Interessen war nie so wichtig wie in Zeiten gravierender Veränderungen.

Wir als Stadtgesellschaft standen schon einmal (mehrmals) an einer Schwelle des Wachstums, die unsere Stadt komplett verändert hat. Das Bildergeviert oben zeigt Aufnahmen aus den 1920 und 1930-er Jahren. Sie stammen aus dem Buch „Gütersloh, wie es war“. (Flöttmann-Verlag von 1971).

Heute zeigt sich anhand dieses Straßenzuges sehr deutlich, wie viele Stufen der Entwicklung weiter wir schon sind und wie hoch es hinaus soll:

Und nun geht es den vielen kleinen Wohnquartieren an die Wurzeln des Seins. In den Stadtteilen, in denen kein gültiger Bebauungsplan vorliegt, zeigt sich die Gentrifizierung zuerst und schon vereinzelt länger, denn dort werden diese neue Gebäude genehmigt, die das Antlitz verändern und die Gemüter erregen, weil sie als Fremdkörper wahrgenommen werden.

Mittlerweile ist Veränderung in der Mitte der Wahrnehmung angekommen, weil jederman eine Kostprobe davon im eigenen Umfeld mitbekommen hat. Und es fühlbar wird. Der Druck steigt, Veränderung anders zu kommunizieren – und partizipativ zu gestalten. Wie gelingen Erhalt, Veränderung und Modernisierung?

Digitale Hilfsmittel machen diesen Prozess der Kopplung von althergebrachten Beteiligungsformaten mit nun virtuellen Netzwerken über Messengerdienste und schneller Kommunikation bis hin zur Formulierung von Bürger-Anträgen und Organisation von Protesten wirksamer. Und es kommt Spaß am Mitmachen auf. Politisches ehrenamtliches Engagement in der Demokratie verschafft sich zunehmend an Gehör. Das politische Gegenüber in Politik und Verwaltung ist gefragt, frühzeitiger zu antworten, zuzuhören, Anliegen ernst zu nehmen.

Derzeit bin ich selbst (wieder mal) aktiv in einer solchen Gruppierung von Zivilgesellschaft in meiner Heimatstadt. Der Stein des Anstoßes: der Neubau eines Kubus mit Penthouse, sieben Parteien und erstmalig mit Tiefgarage für neun PkW. In einem Wohnviertel, das bisher maximal Zweifamilienhäuser kannte und traditionell mit viel Grün und Gärten umgeben ist. Bei Baubeginn in einem Quartier ohne gültigen Bebauungsplan aber dem gesetzten Ziel der Errichtung von Luxusappartements für wenige Wohlhabende war erkennbar: da bleibt kein einziger Grashalm auf den knapp 800 Quadratmetern erhalten. Alles war überplant, der Rasen und ein Kinderspielplatz auf dem Bauplan nur gesetzlich vorgeschriebene Dekoration.

Kürzlich hatten wir dazu ein erstes (!) Online-Zoom-Meeting zwischen einer Bürgergruppe zum nachhaltigen Erhalt des Quartiers Mohns Park und einem Mitarbeiter des Bauamtes. Dieser Kollege durfte (wohl zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt) direkt mit den Anliegern und Interessierten online kommunizieren. So erhielt die Verwaltung ein Gesicht, einen sprechenden Menschen, der ohne Geleitschutz seiner Vorgesetzten direkt in den Kontakt mit der Bürgerschaft treten konnte. Die Vermittlung von sachlichen Informationen, das Inkenntnis-Setzen der Zuhörerschaft, das Bereitstehen für die Beantwortung aller Fragen – es hat der Verwaltung unglaublich viele Pluspunkte eingebracht. Und Vertrauen entstehen lassen.

Mittlerweile liegen unsere drei Bürgeranträge zu einem nachhaltigen Wachstum des Quartiers in den Ausschüssen für Planung sowie im Umweltausschuss. Sie gehen also ihren Gang in der demokratischen Beratung.

Im Rahmen einer ersten öffentlichen Demonstration vor dem Ausschuss schlug uns emotionale Ratlosigkeit der Gremienmitglieder entgegen. Kaum einer sprach die Demonstranten überhaupt an, suchte ein Gespräch. Alles lief eilig an uns vorbei in den Sitzungssaal.

Bis auf eine Ausnahme (BfGT) hatten sich zudem die zuständigen PolitikerInnen im betreffenden Wahlkreis erst gar nicht bei den Aktiven zum Quartierserhalt gemeldet. Erstaunlich oder eher Normalität? Immerhin kommen drei Anträge auf rund 526 Unterzeichner in einem Wohnquartier mit 3.451 Stimmberechtigten. Erst auf direkte Nachfrage kamen Rückmeldungen, teilweise nur vage, teilweise gar keine.

Die Beratungen laufen. Dabei ist schon jetzt feststellbar, dass sich viele Menschen, die vorher überhaupt keine Ahnung von politischen Prozessen in der Kommune hatten, mittlerweile sehr dafür interessieren, wie genau Politik und Verwaltung wirken. Welche Mechanismen greifen – und wo ist der Platz für die eigene Wirksamkeit in diesem Geschehen? Und immer mehr finden ihren Weg ins Engagement, gestartet mit einer Unterschrift unter einen Bürgerantrag.

Auch die digitale Kompetenz und digitale Souveränität steigen von Mal zu Mal. Sei es die Vernetzung mit digitaler Kommunikationstechnologie -von Zoom bis Jitsi – sei es der Austausch und die Organisation via WhatsApp. Es werden immer mehr, die sich einreihen. Es werden stetig mehr, die mitsprechen möchten.

Und noch besser: Aus dem Anspruch, das eigene Quartier mitzugestalten wächst das Bewusstsein, dass hier nur ein Teil des Ganzen verhandelt wird. Der große Rahmen lautet: Wie will die Stadt insgesamt wachsen, nach welchen Kriterien und vor allem wie wird das nachhaltig sein können? Und wie kann ein Ausgleich der Interessen bewerkstelligt werden? Dieser gesamte Ansatz ist im besten Sinne: Engagement fürs Gemeinwohl und die Erkenntnis, dass wie eine Frage stellen, die alle angeht.

Bin gespannt auf den Fortgang. Für mich ist das ein schöner Feldversuch.

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