Die Kultur der Sorge ist in unserer Gesellschaft bekannt. Was jetzt aber unbedingt folgen muss ist: der Brückenschlag zu einer digitalen Kultur der Sorge. Warum: Weil Digitales den Pflege- und Sorgealltag verbessern hilft. Und weil Sorgearbeit oftmals unentgeltlich von Frauen ausgeübt wird. Es wird Zeit, dass sich hier Erleichterungen einstellen.
Daher teste ich gerade als pflegende Angehörige u.a. die NUI-App zur Organisation des Pflegealltags. Dies im Rahmen eines Projektes der Zukunftsregion Digitale Gesundheit (ZDG) in Berlin. Eine zweite App ist dort in der Testphase im Angebot, das „Familiy Cockpit“ – dies teste ich als nächstes.
Aber noch zwei Schritte zurück:
Meine Erfahrungen aus zehn Jahren Betreuung und Sorgearbeit meiner Angehörigen mit Demenz habe ich in einem Buch zusammengefasst „Als die Demenz bei uns einzog und ich mir einen Roboter wünschte“.
Bereits da habe ich (sehnsüchtig) digitale Entwicklungen beschrieben, wie etwa Roboter und KI zum Einsatz kommen können – oder auch ganz simple digitale Hilfsmittel, um den Pflegealltag zu verbessern.
Es ist übrigens sehr selten bis gar nicht vorgekommen, dass Angehörige überhaupt einmal gefragt wurden, was sie sich als digitale Erleichterung im Pflegealltag wünschen. Das jedenfalls ist meine Erfahrung und die von allen in meinem Umfeld. Dieses Wissen aber ist Gold wert. Niemand kann Bedarfe besser einschätzen als die, die täglich als Angehörige in der Pflege gefordert sind.
Im Projekt „Zukunftsregion Digitale Gesundheit“ ist das zum ersten Mal anders – für mich jedenfalls. Hier zählt unsere Erfahrung! Das Projekt fußt geradezu auf dem Mitmachen der pflegenden Angehörigen, dem Testen und dem Einbauen der Rückmeldungen aus der Testphase in die weitere professionelle Entwicklung. Es lohnt sich also mitzumachen – es gibt eine Chance für eine breite Nutzerschaft auf passgenaue Innovation. Mehr dazu findet sich auf der Website des Bundesministeriums für Gesundheit und hier ZDG.
Mir kommt das gerade recht: Seit einem knappen halben Jahr meistere ich wieder eine Pflegesituation: Diesmal Pflegegrad 2, keine Demenz. Immobilität nach Wirbelbrüchen. Komplette Hilfe in Alltag, Haushalt und Körperpflege sind angesagt.
Leider finde ich den Pflegealltag grundsätzlich genau so analog vor, wie 2020, als ich den Pflegekosmos nach dem Tod meiner Angehörigen verlassen habe.
NUI – die PflegeleichtAPP
Aber jetzt teste ich zumindest eine App zur Verbesserung meiner Sorgearbeit. Zur besseren Planung, zur Vernetzung mit meinem Pflegenetzwerk. Zur Dokumentation von Ereignissen oder Mitteilung von Einkaufslisten, zur direkten Informationsvermittlung als Hilfestellung im Gesundheitswesen-Dschungel. Alles gebündelt in einer digitalen Anwendung, die da eben nicht (!) heißt „WhatsApp“. Bisher haben wir diesen Messenger wider aller Unkenrufe zum Trotz genutzt, eben weil es dort so einfach ist, weil da eh schon alle sind. Dass dieser Kanal aber nicht sicher ist und schon gar nicht für sensible persönliche Daten aus dem Krankheitsbereich genutzt werden sollte, ist allen klar. Pflege jedoch greift gleichermaßen umfassend und zeitraubend in den eigenen Lebensalltag ein – man ist froh über jedes digitales Mittel, das hilft und man überspringt leicht Warnungen. Jede professionelle APP steht damit jedoch indirekt im Wettbewerb mit dem Datensammler.
Mittlerweile braucht es also mehr vertrauenswürdige Anwendungen auf dem Markt, die Daten und Personen in der Pflege deutlicher schützen und einen geschlossenen Raum bieten. Und Komfort in der Organisation.
Ich teste also die App mit dem Anspruch, eine Plattform zu finden, die mir die Organisation der Pflege erleichtert, die unser gemeinsames Hilfs-Netzwerk bestens orchestriert – und möglichst auch schon ohne die von mir ersehnten Schnittstellen zum Arzt, Apotheker, zur Krankenkasse und weiteren Anbietern aufweisen zu können. (Die sicher bald einmal folgen werden, jetzt aber noch nicht da sind.)
Nui-App zeigt eine ganze Reihe von hilfreichen Anwendungen. Wir als Familie sind so eingestiegen: Ich habe mich bei der Zukunftsregion gemeldet und als Testerin angeboten. Der Aufruf erfolgte übrigens im Internet!
Von dort erhielt ich eine Broschüre (aus Papier) ja, aber immerhin sehr gut und erklärt in leichter Sprache, die für jeden verständlich ist. Mit der Post. (OK, lachen Sie jetzt nicht.) In dem Anschreiben wurde mir erläutert, wie ich mitmachen kann – u.a. enthielt die Post meinen persönlichen FreischaltCode zur kostenlosen Teilnahme.
Nach dwonload der App, konnte ich meinen persönlichen Code eingeben. Und von dort aus mein „Familiennetzwerk“ zur Teilnahme einladen – mit der Maßgabe, dass meine Einladung dafür sorgt, dass sich auch die „richtigen“ Teilnehmer in meiner Familie einfinden – und sich nicht Familie Müller irrtümlich bei uns einklinkt.
Zentral ist in der APP der Terminkalender zur Organisation, Kommunikation und alle sehen auf einen Blick, was der Tag erfordert. Ein intelligenter Begleiter, als Assistent, steht rund um die Uhr mit Infos zur Seite, etwa, wenn es um Rat geht bei Pflegegraden, Anträgen für Leistungen, was für Leistungen einem überhaupt zustehen. Nach Bundesland passgenau. Auch ein Pflegeratgeber ist abrufbar, der mit Tipps und Erfahrung und Praktischem zur Seite steht. Weiß Nui elektronisch nicht weiter, steht im Hintergrund ein Expertenchat zur Verfügung. (Der funktioniert!)
Wichtig sind uns als familiäres Netzwerk vor allem eine schnelle und übersichtliche Bedienbarkeit mit Kalender, To-Do-Listen, gern auch mit Fotospeicher (die sagen oft mehr über die Pflegesituation aus als viele Worte).
Problematisch war in der praktischen Umsetzung bei uns ein ganz zentraler Punkt, an dem unser Netzwerk bestehend aus echten Familienmitgliedern in der App über die „Familie“ hinaus gehen sollte: also mit der Einbindung von professionellen Pflegediensten und/ oder auch Haushaltshilfen. Die beiden wichtigsten Ansprechpartner als externe Hilfe wollen nicht so recht mitmachen. Pflege ist für sie eine krasse Zeitfrage und damit Aufwand. Zeit ist Geld in der Pflege – und rar. Jedes Hineinsehen in eine App, jedes Nutzen einer Funktion in einer App ist für sie ein weiterer Aufwand für eine Person, der sie lediglich professionell verbunden sind. Da möchte man höchstens konkrete Aufgaben aus der App erhalten oder dahin zurückspiegeln, was man erledigt hat – nicht aber die APP herunterladen. Gleiches gilt für den Pflegedienst. Unser Pflegedienst meldete sich zurück: Wir haben keine Zeit dafür und wir können auch nicht für jeden unserer Kunden einen eigenen Appzugang nutzen, wie sollen wir das verwalten? Und was passiert nach der kostenlosen Testphase? Wird das zu einer Kassenleistung – oder müssen wir für die Teilnahme und Nutzung zahlen?
Für mich ist das Ziel, dass solche PflegeApps künftig eine Leistung der Rentenkasse werden. Sie dienen zur Entlastung der Pflegenden. Diese Investition in die Zukunft und zum Schutz von pflegenden Angehörigen ist kostengünstiger als das bisherige rein analoge Versorgungsverfahren, welches durch seine Aufwändigkeit Menschen in der Pflege auf lange Sicht in den Burnout schickt.
Im Dialog mit den Machern von NUI-App gab es zahlreiche detaillierte Rückmeldungen. Und mir gab es das Gefühl, dass sich wirklich jemand auf den Weg macht und helfende Tools basteln kann. Außerdem gibt es virtuelle Dialogrunden mit den Machern der Zukunftsregion sowie detaillierte Fragebögen, die Erfahrungen festhalten, dokumentieren und für Entwicklung sorgen.
Ich würde mir einen höheren Verbreitungsgrad für die Testphase wünschen, also das Bekanntmachen etwa in der Schnittstelle zwischen Krankenhaus und häuslichem Bereich, wie beim Entlassmanagement in den Krankenhäusern. Oder durch die Frauenverbände, die Landfrauen, Beratungsstellen für Pflege etc. Hier muss und kann mehr Werbung für bestehende APP_Angebote stattfinden. Ebenso darf hier noch mehr digitale Souveränität vermittelt werden. Damit die nächste Generation an pflegenden Frauen (und Männern) sich nicht weiter die Hacken schief laufen, sondern völlig selbstverständlich Digitales nutzen können. Als erster Einstieg ist also die Nutzung einer PflegeAPP super.
Disclaimer: Ich verdiene kein Geld als Testerin.