Digitales kann Leben retten

Wir tun uns sehr schwer im Umgang mit Daten im Gesundheitsbereich. Und doch könnten digitalisierte Verfahren helfen, Leben zu retten. So weit würde ich mittlerweile gehen.

Das Foto zeigt einen Besprechungsraum in einem Krankenhaus in Tallinn.
Digitales in der Gesundheitsversorgung

Ein Beispiel: Seit Jahren begleite ich eine Angehörige, die an Demenz erkrankt ist. Sie lebt in einem Wohnheim für an Demenz erkrankte Menschen. An einem heißen Sommertag in den letzten Wochen ist sie kollabiert. Das Heim hatte den Rettungswagen alarmiert. Nun lag sie mit hohem Fieber in der Notfallambulanz eines der Krankenhäuser der Stadt. Schnell war klar, dass ein Infekt die Ursache war. Als Medikament sollte ein Antibiotikum zum Einsatz kommen. Es stand die Frage im Raum, ob möglicherweise auch eine Allergie vorliege. Als Begleitperson konnte ich das mit „ja“ beantworten. Aus Erfahrung aus dem letzten Jahr war mir das bekannt. Im letzten Jahr war sie im Nachbarkrankenhaus eben damit behandelt worden – und hatte eine erhebliche allergische Reaktion gezeigt. Nur wusste ich jetzt allerdings den Namen des Medikamentes nicht mehr. Was tun?

Nun kann der Rettungsdienst sich nicht aussuchen, in welches Krankenhaus ein Patient eingeliefert wird. Daher war es im letzten Jahr Krankenhaus A, in diesem Fall Krankenhaus B. Sie als Patientin war die einzige Schnittstelle zwischen den beiden Häusern sowie ich als Begleitung. Und jetzt fehlte hier die digitale Verbindung: in beiden Krankenhäusern lagen nun wertvolle Daten über die Vorgeschichte und die Gesundheit der Patientin vor. Sie wären jetzt hilfreich nicht nur für die Medikamentengabe, sondern insgesamt zur Einschätzung der aktuellen Situation hilfreich – und notwendig. Aber: Die Ärzte haben keinen Zugriff auf die Daten. Die medizinischen Daten liegen nicht beim Patienten gebündelt, sondern sie liegen wohl verwahrt in den behandelnden Praxen. Sie liegen in Silos verwahrt und sind nutzlos, wertlos für die Patientin. Im Zweifelsfall kann das ein Leben aufs Spiel setzen. Umgekehrt könnte der Zugriff auf individuelle Daten von Patienten Leben retten.

Der Arzt fragte mich also: Wie heißt denn das Präparat, welches die allergische Reaktion ausgelöst hat? Meine Antwort war: „Das weiß ich nicht mehr. Aber rufen Sie doch die Kollegen im Krankenhaus A an. Die wissen das doch noch vom Aufenthalt der Patientin dort. Das findet sich sicher in den Akten.“ Antwort des Arztes: „Es ist Sonntag. – Wir haben keinen Austausch und Zugriff auf Daten aus anderen Häusern.“ So musste ein Medikament eingesetzt werden, bei dem nicht klar war, wie die Patientin reagieren würde.

Eine digitale Krankenchipkarte wäre da hilfreich gewesen. Die Informationen sind an den Patienten gekoppelt – und jeder, der in einem medizinischen Fall helfen muss oder soll, hat hierauf Zugriff. Ebenso wie der Patient natürlich selbst auch. Natürlich mit einem umfassenden Paket des Datenschutzes.

In Deutschland gibt es das nicht.

In Estland aber funktioniert das mit der elektronischen Krankenakte ganz hervorragend. Ich konnte mich im North Estonia Medical von Tallinn selbst darüber informieren. Hier sind die Daten zur Krankenversicherung sowie über alle medizinischen Details auf dem elektronischen Ausweis gespeichert. Jeder Einwohner von Estland hat eine solche elektronische Identity Card, mit der so ziemlich alles möglich ist: das Abrufen von staatlichen Dienstleistungen, das Wählen – und auch die komplette Datenlage über alle medizinischen Daten, Fakten und Arztbesuche.

Das Foto zeigt die ID-Card Estonia.
Plastik bündelt Daten

Hier findet sich die komplette medizinische Genese. Mit Vermerk, wer Zugriff hat, hatte und warum. Bereits beim Eintreffen in ein Krankenhaus haben die behandelnden Ärzte einen umfassenden Wissensvorsprung. Natürlich können auch sie nicht ganz wahllos in allen Daten herumstöbern, die Wege der Zugangsberechtigung sind konkret vorgegeben. Und mit speziellen Codes gesichert. So kann etwa der Chefarzt eines Hauses einen umfangreicheren Einblick nehmen als Schwestern. Jeder Zugriff wird vorher auf Berechtigung geprüft. Jeder Zugang wird dokumentiert. Und: Stellt der Patient einen unberechtigten Zugang fest, zieht das konkrete Sanktionen auch für die Ärzte nach sich. Ein System, welches einen hohen Mehrwert aufweist und Vertrauen geschaffen hat. Durch die elektronische Krankenakte sind übrigens auch alle bildgebenden Verfahren gespeichert, wie etwa Röntgenaufnahmen. Estland ist an der Stelle ein Vorreiter. Es ist nicht erstaunlich, dass so viele Nationen in das nördlichste EU-Land reisen, um sich digital aufzufrischen.

Die Praxis, wie ich sie hier in Deutschland beschreibe, zeigt allerdings bereits ebenfalls, dass eine Sortierung von medizinischen Daten nach Leistungserbringer nicht aufrecht zu erhalten ist. Das gilt übrigens um so mehr, als dass die Daten immer umfangreicher werden und wir ein hohes Maß an individueller Selbstverantwortung in der Medizin etabliert haben. Nur über seine eigenen Daten hat hier keiner die Hoheit. Schon gar nicht die Kassenpatienten.

Zudem sind wir eine alternde Gesellschaft Die Fakten der Demographie zeigen auf nahende Überalterung. Mit dem Nebeneffekt, dass künftig immer mehr Menschen den Überblick über ihren Gesundheitszustand im Alter verlieren werden. Es ist kaum zu erwarten, dass dann etwa die pflegenden Angehörigen oder andere Dritte diesen Überblick auch noch angemessen bewältigen und verantworten müssen.

Digitale Strategien können Leben retten. Wir sollten endlich diesen Weg gehen.

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