Ostwestfalen blickt auf eine regelrecht „stoffliche“ Geschichte zurück: hier waren mal sehr viele Textilhersteller verortet und Webstühle bilden die Grundlage der wirtschaftlichen Prosperität der Region von vor hundert Jahren. Heute sind Textilien, Garne und Stoffe ein disruptives Geschäftsmodell: sie werden smart. Sie liefern Daten in Echtzeit und sind Geschäftsmodelle für Industrie 4.0. Wenn man denn den Trend erkennt.
Diese Analogie ist mir im Rahmen der CeBIT aufgefallen: Am Infostand des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie in Halle 6 gab es verschiedene Vorträge. Einer davon: „Smart Textiles – Future Automated Production Technologies“, gehalten von David Schmelzeisen, RWTH-Aachen, Institut für Textiltechnik und Lehrstuhl für Textilmaschinenbau. Er zeigte sehr anschaulich an welchen Projekten die RWTH arbeitet und machte deutlich, welche Umwälzung wir auch hier künftig erfahren werden.
Garne werden heute mit leitfähigen Schichten ummantelt, leitfähige Garnstrukturen in Form der Stricktechnologie umgesetzt: Karbon-, Glas-, Basalt-, Aramid-, Natur-, thermoplastischen und Keramikfasern, sowie metallisierter Garne. Leitfähige Textilien werden auch durch traditionelle Textilprozesse hergestellt – und stellen in ihrer Anwendung doch alles auf den Kopf. Ihre Anwendung liefert künftig Daten in Echtzeit. Egal ob personenbezogen oder für Materialien und deren Verschleiss. Und Textilien werden künftig Träger von smarten Applikationen sein, je näher am Menschen digitale Funktionen ausgeübt werden können, desto besser.
// Disruptive Geschäftsmodelle
Gerade der Bereich der Textilherstellung hat einen rasanten Wandel erfahren. Es bietet sich förmlich an, anhand dieser Historie „disruptive Geschäftsmodelle“ zu erläutern. Anfangs waren es manuell bedienbare Webstühle, die in den Stuben der eher ärmlichen Katen standen. In der industriellen Revolution kamen die Maschinen dazu, die in England längst schon reihenweise am Werk waren: Webstühle standen jetzt in Fabriken. Sie verdrängten das Handwerk, schafften aber ganz neue und viel effizientere Produktionsverfahren – und veränderten die Arbeit im Handumdrehen. Damit verbunden war der „Maschinensturm“ und auch wurde die „soziale Frage“ gestellt, der Beginn einer neuen Zeit. Keiner konnte sich dieser Entwicklung entziehen. Heute erleben wir einen weiteren Quantensprung, den man sich vor kurzem noch nicht hätte vorstellen können. Smarte Garne? Smarte Textilien? Die Reaktion wäre ein Kopfschütteln gewesen. Wir stehen wieder vor neuen Fragen und neuem Ausloten, wie wir künftig arbeiten wollen und wie wir disruptive Geschäftsmodelle nutzen können. Wenn sie denn als Chancen erkannt und umgesetzt werden.
Hier nur ein paar wenige Projekt-Beispiele aus dem sehr aufschlussreichen Vortrag von David Schmelzeisen, die die Wucht der (notwendigen) digitalen Veränderungen verdeutlichen:
// Überwachung
Überwachung muss nicht schlecht sein. Textile Elektroden, also in smarter Kleidung, überwachen etwa die Vitalität eines Menschen, übernehmen eine Art Gesundheitsmonitoring. Hier ist beispielsweise die Messung des Flüssigkeitslevels im Körper zu nennen, sie kann zu gering oder auch zu hoch sein. Die Vitalfunktionen werden erfasst, etwa die Temperaturmessung. Textile Thermoelemente aus Edelstahlgarnen und Konstantanfilamenten erkennen Druckstellen, etwa beim längeren Liegen oder auch bei Arbeitsbekleidungen. Im Fokus stehen dabei besondere Benutzergruppen wie ältere Menschen, Sportler und Risikopatienten. Der Referent brachte zudem das Beispiel von Evakuierungsmatten, die künftig digital werden. Sie könnten bereits beim Transport wichtige Ergebnisse liefern, was die Vitalwerte von geretteten Menschen angeht. Erreichen sie dann einen Rettungswagen oder ein Krankenhaus, liegen dort schon die (über)lebenswichtigen Messdaten in ihrem Prozessverlauf vor: die Matte hat sie qua Sensoren in Echtzeit übertragen. Dass smarte Garne künftig auch in normalen Matratzen in Betten verarbeitet werden können und Impulse für Wärme, Kälte oder auch Bewegung und das Einführen von Duftstoffen möglich macht, ist schon fast naheliegend. Man nennt das dann Bewegungs- und Zustandsüberwachung.
Ein weiteres Beispiel ist die Sportbekleidung, hier kommt neben der Vitalmessung in Echtzeit für Sportler auch noch der Sicherheitsaspekt dazu: wie etwa bin ich als Sportler im Dunklen beleuchtet? Auch das liefert künftig das denkende Textil in dem ich gekleidet bin passgenau mit. Die Frage bleibt: Darf eine Sportbekleidungs-Firma diese Daten für sich in Anspruch nehmen?
Packend ist auch der Einsatz von smarten Textilien etwa bei Feuerwehrleuten, die neben ihrer Ausrüstung noch ein ganzheitliches denkendes Einsatzsystem um sich haben werden, wenn sie in ihre Berufskleidung steigen: Jacken und Rettungsleinen, die mitdenken und Daten übermitteln, helfen dem Helfer und machen den Job zukünftig noch sicherer, während er für die Sicherheit anderer Menschen im Einsatz ist.
Diese Entwicklung zeigt: Wo für die textile Branche die rote Laterne brennt oder brannte, könnten sich ganz neue Geschäftsfelder aufschließen. Man muss sie nur sehen, erkennen.
// Materialien werden überwacht
Auch Bänder und Seile gehören hier in das intelligente Portfolio. Sie könnten qua Sensoren Aufschluss über ihren Verschleiß geben oder über den Grad ihrer Belastung. Bei der Verwendung von Seilen zur Sicherung in Berührung mit Wind und Wasser sind vor allem Wetterdaten wichtig, die einen Hinweis auf die Herausforderung und Beanspruchung der Sicherung geben. Beispiele sind die Sicherung von Schiffsladungen oder Windkraftanlagen bei offshore Witterungssystmen, man nennt das flowting systems. Man denke zudem an Aufzugseile oder Fallschirmseile. Das geht bis hin zur Begutachtung des Zustandes und konkreter Vorhersage des Restlebensdauer des Materials.
// smart Leuchten
David Schmelzeisen zeigte auch Aspekte der Beleuchtung auf: Textilien werden mit Leuchtgranen versehen, die eine punktgenaue Beleuchtung ermöglichen oder aber einen zeitindividuellen Einsatz und eine immanente Steuerung. LED auf Textilien ist inbegriffen, ebenso wie hybride Strukturen mit diffusen Lichteffekten. Je nach Einsatzort.
// smart durch Falten
Besonders war auch die Interaktion zwischen Stoff und Nutzern: haptisch-intuitives Ansteuern von Funktionen etwa durch das Infaltenlegen von Stoffen. Einfacher: wenn ich meinen Pullover zwischen den Fingern knittere, wird eine Funktion eingeschaltet. Oder aber die Näherungs- und Berührungssensorik löst eine Handlung aus. Alles möglich durch mitdenkendes Garn oder intelligente Stoffe.
Ein letzter Aspekt soll nicht unerwähnt bleiben, weil er auf den Smart City Gedanken einzahlt: wenn künftig textile Oberflächen in der Lage sind, Energie zu speichern, bekommen Hausfassaden und auch Stadiensegel etc. eine ganz enorme Bedeutung.
// Tastatur auf Stoff
Und auch das Aufdrucken von Tastaturen auf textile Flächen werden die Bedienerfreundlichkeit von weiteren „Anwendungsgeräten“ künftig revolutionieren. Wozu noch ein Smartphone in die Hand nehmen, wenn dieses „auf der Fläche“ der Kleidung integriert ist?
Faszinierende Eindrücke waren das. Und Erkenntnisse darüber, dass und wie Disruption überall stattfindet. Nur leider der Denk- und Diskussionsansatz darüber eher wenig verbreitet ist. Obwohl er uns alle betrifft.