Lass uns reden! Über 2022.

Dieser Tage ruft Stefan Brams, Leiter der Kultur- und Medienredaktion der Neuen Westfälischen Zeitung, die Leserschaft auf, mit ihm ins Gespräch zu kommen. „Lassen Sie uns über 2022 reden“ – so seine Einladung.

Was denken Kunstschaffende, AutorInnen, Interessierte, Kreative, Leser, KulturveranstaltungsmacherInnen? Er betreibt aufsuchenden Journalismus, also will dahin gehen, wo die Menschen sind. Mit der Frage: Was erwarten wir also von 2022?

Hier meine Gedanken zu 2022:

Ins Gespräch kommen. Also echte Kommunikation! Sender-Empfänger mit Rückkanal, ohne Einbahnstraße zu sein. Das ist ein großes Bedürfnis. Wer genau hinsieht, findet deutliche Botschaften für die Notwendigkeit steter Kommunikation bereits im öffentlichen Raum. Die Straße ist längst eingeweihte Komplizin der vielfältigen Stimmen mit dem Wunsch nach Zukunftsgestaltung: Postulate, Haltungen, Stimmungen, Emotionen, sie sind eigentlich nicht zu übersehen.

Die Zivilgesellschaft als Absender spielt eine tragende Rolle und ist treibende Kraft: Als Kitt für den spröder werdenden sozialen Zusammenhalt. Als Brücke. Sie übernimmt die Mahner-Rolle und weist auf Ungleichheit hin, auf Zerstörung und falsches Wegducken, fordert Solidarität, steht auf für Vielfalt. Sie ist Transformationsriemen für Bewegungen, bringt Debatten nach vorne. Die wehrhafte Zivilgesellschaft ist auch ein mächtiges Bollwerk gegen zunehmende Kräfte in der Gesellschaft, die sich in Verschwörungsphantasien gegen die Demokratie und ihre Grundwerte stellen.

Ins Gespräch kommen. Auf dem Boden von Vielfalt und Toleranz in einer offenen Gesellschaft. Das ist – glaube ich – dieser Tage das wichtigste Element, um nichts Geringeres als das hier schon 2022 zu meistern: die Transformation der Gesellschaft ins nächste Level. Mit all ihren Herausforderungen.

Ich will das nächste Level nicht „Moderne“ nennen, denn bisher bleibt es erstmal ein (nächster) historischer Umbruch mit Untiefen, welcher alle Gesellschaftsfelder umfasst und bewegt, mit Sicherheit keinen Stein auf dem andren belässt. Disruption ist dafür die derzeitige Diagnose. Weg von alten Gewohnheiten und Traditionen hin ins Ungewisse, Neue. Allein, es fehlen vielfach fruchtbare und verbriefte Formate für den Austausch.

Dabei ist der Ansatz zur Debatte so vielschichtig: Systemisch, nicht nur partiell, also wirtschaftlich, sozial, ökologisch, nachhaltig – vernetzt miteinander. Weiterentwicklung, Veränderung. Eigentlich ein Umstand, der immer schon da war. Aber in manchen Zeiten besonders extrem ausfällt und Angst macht. Und „manche Zeiten“ – das ist jetzt.

Veränderung, Digitalisierung, Klimawandel, Globalisierung – und unterschiedliche Geschwindigkeiten des Mitgehens. Zentrifugalkräfte lassen immer mehr Menschen vom Karussell abfallen, viel mehr Gründe der Spaltung bestehen neben den Polen „arm, reich, Impfungbefürworter oder -gegner“. Wir sind bereits breit differenziert. Und wir stehen vor einer sich verändernden Welt – diese zu verstehen bedeutet immer wieder und noch viel mehr, die Werkzeuge zu nutzen, die dem Menschen als Geschenk gegeben wurden: (nach)denken, reden, reflektieren, entscheiden. Wo kann man das besser als in Kunst, Kultur, Literatur, auf der Bühne? Und in der Demokratie.

Wir hangeln oft den Entwicklungen hinterher, lernen im Prozess, fahren auf Sicht. Wie etwa 2007 als Zäsur für ein Leben VOR dem Smartphone und eines danach, wir sortieren die Welt danach immer noch nur retardiert. Obwohl so eine technische Supernova das Sein ähnlich zu unterteilen in der Lage war wie etwa die Trennung in „vor Christus“ oder „nach Christus“, wenn wir beispielsweise Steve Jobs als „IGod“ beschrieben finden. Oder in Coronazeiten Impfstoff in nur einem Jahr etabliert ist und heute „Boostern“ als Glaubensbekenntnis für eine aufgeklärte Welt anerkannt ist. Wir müssen uns darüber verständigen, wie wir diese Veränderungen einordnen. Wir müssen uns darüber austauschen, dass Unsicherheiten zunehmen und Gewissheiten abnehmen. Dass neben der Kommunikation und Mitnahme des schon jetzt sehr anspruchsvollen Veränderungsprozesses künftig verstärkt auch Krisenkommunikation nötig wird.

Auf dem Weg des Diskurses hin zu einer Fortschrittserzählung vom Dasein und Leben in der nahen Zukunft braucht es mehr Formate, die Zivilgesellschaft, Bevölkerung und Entscheider miteinander ins Gespräch bringen. Und in der Lage sind, Bilder für die Zukunft entstehen zu lassen, die die Menschen mitnehmen. Gemeinsam, ohne das Gefühl abgehängt zu sein.

Ins Gespräch kommen. Das wünsche ich mir jeden Tag. Und dabei wäre es heute mit den digitalen Möglichkeiten so simpel, wir haben es aber an vielen Stellen versemmelt, Blasen an Communities sind entstanden, wir haben Hatespeech keimen und blühen lassen, die vielen offenen Schnittstellen zu verbarrikadierten Tresortüren degradiert, die vielen Sichtweisen vereinzelt.

Es braucht eine Rückkehr, um im Level der Moderne anzukommen: Rückkehr zu neuen Formaten für den Austausch. Mit einer neuen Wertigkeit, einem anerkannten Stellenwert des Dialogs auf Augenhöhe und mit der Tatsache der Vielfalt. Mit einer neuen Kompetenz. Mit dem Ziel: Gesellschaftlichen Konsens darüber zu vereinbaren, wie wir zusammen leben wollen. Schon heute, 2022 ganz sicher und in den Folgejahren erst recht. Die unzähligen Fakten der Vernichtung unserer eigenen Lebensgrundlage belegen schon jetzt, so wie bisher kann es nicht bleiben. Wir verbrauchen zu viele Erden, um eine Nation von 195 im gleichen Stil weiter zu betreiben. 2022 wird mehr Antworten in diese Richtung verlangen, wie es gelingen kann, die „Moderne“ (jetzt also doch!) so zu gestalten, dass sie lebenswert bleibt.

Formate könnten sein: Bürgerräte in den Kommunen, im Land, auf Bundesebene; Nutzung digitaler Beteiligungsplattformen wie Consul, zur direkten und transparenten Einbindung der Vielen für Setzung von Themen und Entscheidungsfindungen; Zukunftsausschüsse, die die Bevölkerung einbeziehen und frühzeitig reflektieren, welche Veränderungen welche Folgen zeigen können; Resilienzräte; politische Cafés in den Städten; Speakers Corner. Orte des öffentlichen Diskurses. Gepaart mit Transparenz, Offenheit in den Prozessen und Problembeschreibungen. Im besten Sinne von offenem Verwaltungs- und Regierungshandeln. Ein Dialog, der von Gleichheit ausgeht, also Informationsasymetrien verhindert, Rechenschaft fordert für Handlung und Handlungen argumentiert. Sogar das aus der Not geborene Streaming von Gremiensitzungen in der Politik hat einen Schub an Offenheit geleistet und Gespräche in Gang gesetzt.

Die Palette der Herausforderungen der Zukunft, die durch Debatten moderiert werden müssen, ist lang – sie rufen seit langem schon von der Straße sehr sichtbar: Rede über mich – redet miteinander. Findet einen Weg für die Zukunft!

Auch und insbesondere nach der Bundestagswahl liegen jetzt Themen (und Erwartungen) auf dem Tisch, die gesellschaftlich ernst werden müssen – die aber ohne Diskurs und Kommunikation nicht gelingen können:

Ein paar Beispiele aus nur einem Tag intensiver Zeitungslektüre:

Der neue Wirtschaftsminister Robert Habeck schreibt an seinem Jahreswirtschaftsbericht, schon jetzt werden daraus vorab Passagen berichtet. Es heiße da, „es müsse debattiert werden, ob die Bevölkerung immer mehr materiellen Konsum wolle oder lieber Fragen der Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit beantwortet sehen wolle.“ (Quelle: Taz, Habecks Manifest: Kapitalismus in Grün. vom 22.12.21)

Die neue Familienministerin Anne Spiegel ist angetreten, einen Gleichstellungscheck auf den Weg zu bringen: Bei der Besetzung von Gremien oder Aufsichtsräten mit Landesbeteiligung hatte sie alle Vorlagen in ihrer Zeit als Ministerin in Rh-Pfalz auf den Tisch bekommen – bevor sie ins Kabinett gingen. Wenn sie nicht paritätisch waren, habe sie diese gestoppt. Im Idealfall paritätisch besetzt. Als Bundesministerin wird sie ihr Handeln auf den Bund übertragen. (Quelle: Taz vom 22.12.21 – Bin bei meiner Grundhaltung nicht bereit, Abstriche zu machen.“)Feminismus, darüber reden wir schon sehr lange, aber um erfolgreich zu sein, eben noch nicht genug. 2022 könnte ein erfolgreiches Jahr werden, mehr Frauen in entscheidenden Rollen werden sichtbar.

Und dann oben drauf noch ein Thema für 2022: Scheitern, Erschöpfung – eine Nation bräuchte mal Pause. Ein viel größerer Keil als arm und reich, denn erschöpft sein und dann so viele Herausforderungen meistern zu müssen, wird schwierig. Scheitern, Depression und Erschöpfung aber gehören trotz Thorsten Sträter und weiteren Prominenten, die sich dazu bekennen immer noch nicht zum normalen offenen Dialog. Dabei ist das Private hier besonders politisch.

Wir sollten darüber sprechen, was das macht, Scheiternserfahrungen, die eben nicht in einer erfolgreichen Kurve nach oben im Happy-End enden. Viele Menschen sind etwa in Folge der Pandemie und durch das Wegbrechen ihrer Berufsfelder oder ihres Lebenserwerbes in die Hotlines und E-mail-Accounts des Jobcenters gespült worden. Tausende sind am Rande ihres Existenzminimums. Vor allem Kulturschaffende. Und machen zum ersten Mal Bekanntschaft mit staatlicher Transferleistung – und einem Wust an Formularen, die immer gerne haarscharf an der Lebensrealität vorbei schrammen. Und es wird ein neues Erkenntnis geboren: Behörden sind gefräßig, sie benötigen immer noch mehr Unterlagen. Und noch mehr Papier. Und noch mehr Zeit zur Beantwortung. Auf dem Postweg. Lass uns darüber reden, wie soziale Sicherheit 2022 aussieht. Wir haben als Gesellschaft neue Schnittstellen und Berührungspunkte mit dem Abstieg erlernt. Bisher mit viel zu wenig Gesprächen darüber, die finden eher in nicht- öffentlichen Praxis von Therapeuten statt.

Für Kultur, Kunst, Autorenschaft, Kreative dürfte 2022 ein Jahr des produktiven Feuerwerkes werden. In Zeiten von Reibung, Ungewissem, Ängsten, Dystopie und Utopie ist vieles möglich. Brüche, die nach kreativem Ausleben schreien.

Die Antwort: Ins Gespräch kommen. Mit dem Publikum. Mit den vielen. Mit der Zivilgesellschaft. Mit dem Willen nach Austausch, Erkenntnisgewinn – und nicht nur Einbahnstraßensenden. Wer reden will, muss auch zuhören.

Bin sehr gespannt, was Herr Brams alles im Gespräch erfährt. Und was das bewirkt. Lasst uns reden.

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