Auf allen Kanälen: #Corona. Aber das ist gut so, weil wir in unserem Zusammenleben noch nie eine derart tiefgreifende Veränderung von außen erlebt haben. Wir sind allesamt Lernende.
Das bemüßigt zum neuen Aushandeln von Gesellschaft. Weil derzeit Dinge möglich gemacht werden und sich die gewohnte Tektonik des Daseins verschiebt, wie nie zuvor gedacht. Gleichermaßen standen wir direkt VOR Corona eben auch schon vor dieser gesamtgesellschaftlichen Herausforderung der Neuordnung unsere Seins. Global, national, lokal. Erinnert sei an die Diskussion um Nachhaltigkeit, um Klimawandel und globale Gerechtigkeit im Ressourcenverbrauch und Lebensstil.
Zur Zeit kursiert ein Beitrag von Matthias Horx, seines Zeichens Zukunftsforscher. Er beschreibt das „Die Welt nach Corona“ in der Methode der Rückwärts-Prognose und nennt diese „Re-Gnose für die Welt im Herbst 2020. Aus dem Inhalt kurz skizzierte Stichpunkte:
Verzicht führte nicht zur Vereinsamung, gesellschaftliche Höflichkeit zog ein, Kulturtechniken des Digitalen bleiben, persönliche Erreichbarkeit ist wieder belebt, Absage an den Zynismus, Medikamente werden schneller gefunden sein als gedacht, human-soziale Intelligenz hat geholfen, KI wird überbewertet, Technik-Hype sei vorbei, Weltwirtschaft sei dann glokal, Vermögen werden nicht mehr entscheidend sein, neue Haltung in Form von Zukunfts-Intelligenz, aus innerem Kontrollverlust wird innere Kraft, neue Glaubwürdigkeit der Politik, Geisteswissenschafler gewinnen wieder an Relevanz, neue Ordnung der Konnektivität, die Sprache der Komplexität versetzt in die Lage der Gestaltung von Gesellschaft, Corona als Sendbote der Zukunft, zwei Dinge bleiben besonders: Musik auf den Balkonen und Reine Luft über China.
Die Horx´schen Beschreibungen teile ich in weiten Teilen nicht. Mir sind viele der Zuschreibungen und Wertvorstellungen zu deutlich geprägt aus der Sicht einer Generation, die es gewohnt ist, den Ton anzugeben und zu vermitteln, das ihre väterliche Deutung der Welt richtig ist, auch noch aus rein männlicher Sicht interpretiert, dazu noch jemand, der arriviert ist in der öffentlichen Wahrnehmung und jemand, der sich sicher keine Sorgen um seine finanzielle Zukunft machen muss. Es ist mir zu sehr Diktion von „oben nach unten“. Und zu sehr gedankliche Transformation von Sozialromantik ins Morgen. Es fehlt auch das „Wie“ – und „WO“ wird das verhandelt?
Es wird sich eine Neuordnung einstellen. Ich vermute sehr viel mehr Stress auf dem Weg hin zur Neuorientierung. Ich vermute sehr viel mehr Abstiege (wirtschaftlich und gesellschaftlich), weil die Vielfalt wegbricht, denn die Finanzstarken mit Polster überleben, es wird sehr viel mehr Fusionen geben, die Größe und Machtposition anstreben.
Einige wenige Aspekte:
Der Wirtschaft soll geholfen werden. 40 Mrd. stellt der Bund insbesondere den Kleinstunternehmen und Soloselbständigen zur Verfügung. Finanzminister Scholz nennt es den „Solidaritätsfonds“, eine Mischung aus 10 Mrd. Soforthilfe und 30 Mrd. Darlehn.
Zu viel Bürokratie, zu viele Versprechen, die in der Praxis zerplatzen – eben weil wir weitermachen werden wie bisher, in alten Mustern. Das wird zunächst für die vielen Anträge auf finanzielle Unterstützung in einem desolaten Papierwust münden. Deutschland liebt Formulare. Das kennt jeder, der sich in der Flüchtlingskrise engagiert hat. Banken, Behörden, Sparkassen – also die potentiellen Geldverteiler – sie ticken nach Corona genau wie vor Corona. Auch, wenn sich Gesetze einstellen sollten, die es schneller und einfacher machen. Kredite aber bleiben in der gleichen Denke hängen: auch hier braucht es Sicherheiten und viel Papier bevor Geld fließt. Die Kalenderblätter jedoch fallen schneller zu Boden als Geld in die Kasse kommt, 30 Tage sind rasch rum. Und dann stehen die Miete auf dem Zettel, die Krankenkassenbeiträge (die noch am schlimmsten sind), die laufenden Kosten. Wer also bis hierher eh schon vom 1. bis zum 30. Tag des Monats mit „Geld rein und Geld-raus“ lebte, rutscht jetzt ins Minus. Und das ist ein nicht zu unterschätzender Unterschied: ein finanzielles Polster abzuschmelzen bedeutet zwar gefährdet zu sein aber noch immer selbst entscheiden zu können. Doch vom Nichts ins Minus zu rutschen, drückt die eigene Position unter die rote Linie. Ab sofort geht es ab zum Betteln und Bitten, auf die Knie vor die Gebenden. Die eigene Position ist jetzt gesellschaftlich auf die der Almosenempfänger reduziert. Das ist ein Erlebnis der besonderen Art – und am besten können es diejenigen nachvollziehen, die sich mit staatlichen Behörden wie Arbeitsamt, Jobcenter und Kreditabteilungen schon auskennen. Kein gutes Gefühl. Ein Gefühl, das nicht von Wiederaufstehen geprägt ist, sondern von Repressalien. Die Ränge der Armut sind damit um noch eine Gruppierung von Mitgliedern der Gesellschaft reicher geworden. Das Kollektiv der Verlierer ist breiter als noch vor Corona, und die Angst vor Abstieg war auch da schon greifbarer als je zuvor.
Zudem befürchte ich, dass die Festangestellten in ihrem Sein sehr viel schneller Stabilität und Sicherheit erhalten – trotz Kurzarbeit und Abfeiern von Urlaub und Überstunden – als die vielen Freiberufler, Kreative, Kunstschaffenden und Soloselbständigen. Das schafft keine Aufbruchstimmung, sondern erstmal Angst und Konkurrenz untereinander, wer wann zu welcher Unterstützung gelangen wird. Gerade die, die noch Restsicherheit behalten haben, wollen diese auf jeden Fall sichern, besser gesagt: bunkern. Ob es eine breite Solidarität im Teilen von Steuergeldern geben wird, wird sich erst noch zeigen. (Siehe Klopapier: jeder nur ein Paket – es hat nicht funktioniert.)
Im Grunde könnte und müsste das jetzt die Zeit der Gewerkschaften sein, die sich dieser neuen Klientel der „ins-Bodenlose-Fallenden“ annehmen müsste, längst schon. Wenn sie clever sind, gelingt eine Vernetzung und Interessenvertretung dieser wachsenden Gruppe an Menschen, die zukunftstauglich ist. Denn: Viele Unternehmen werden jetzt auch merken, wie lästig so viele Angestellte sein können. Möglicherweise ist nun das Interesse der größeren Firmen noch mehr gewachsen, Leiharbeit einzuführen, lediglich humane Kontingente nur nach Bedarf vorzuhalten, die nicht direkt auf ihrem Deckel gebucht sind und bei Krisen nicht stören.
Auch Führung in vielen Betrieben steht in Frage. Das Gros der ArbeitnehmerInnen hat in den letzten Wochen schlagartig dazu gelernt. Wie es ist, #remote zu arbeiten, dass Homeoffice ganz prima ist, dass newwork eben nicht nur Effizienz bedeutet, sondern neue Formen der Zusammenarbeit mit sich bringt, hierarchiefrei, matrixartiger, mit der fluiden Zusammensetzung von Teams etc. Und dass kollaboratives Arbeiten ganz andere Kriterien des Gelingens kennt und voraussetzt als lediglich traditionelle Führungsvorgaben – und trotzdem zum Ziel kommt, vielleicht sogar ein neues, kreativeres mit mehr Nutzen als bisher. Nur mit mehr Spaß und neuer Energie und Freude am Arbeiten. Anstatt diesen Trend zu befeuern…
… findet wohl eher dies statt: Wie man das aus der unternehmerischen Organisationsentwicklung her kennt, werden die vielen analogen Führungskräfte nun erkennen, dass sie nicht mehr die zentrale Rolle gespielt haben, dass ihnen starke, weil erlebbare Konkurrenz erwachsen ist. Gerade durch digitale Natives und Ausprobierer und bisher belächelte Nerds. Bei vielen Führungspersönlichkeiten wird nun die Angst aufkommen, dass die Krise gezeigt hat, dass andere viel natürlichere Führung übernommen haben. Ihre Chef-Rollen sind in Gefahr. Und die Autorität. Gerne genutztes Mittel ist dann, alle aufgeregten Schafe wieder in ihren Claim zu verfrachten, hinter sicheren Zäunen. Das Neue wird in der Regel so schnell wie möglich auf Weisung von oben hin „institutionalisiert“, also an eine vermeintlich dafür zuständige Stabsstelle gegeben, die künftig das „Sagen“ hat, solche kreativen Selbstorganisationen wieder „einzufangen“ und in die Hierarchie und Abläufe zurück zu pressen, bevor es Hierarchien und Organisationen von innen aus den Angeln hebt. So wie einen Fluss, der bei Hochwasser über die Ufer gegangen ist. Und obwohl man weiß, dass er aus den Fugen mehr Fruchtbarkeit und Vielfalt im Gelände gebracht hat, solle doch alles wieder beim Alten bleiben, zu gefährlich das Neue. Ein solches Korrektiv von freien Kräften ist in der Regel mit Sanktionen und vor allem Hierarchietradition und Angst besetzt. Ein Großteil wird sich fügen. Zum Schaden jeder Neuorganisation. Stillstand kehrt dann wieder ein, der lange anhält, weil das Zeitfenster für kleine notwendige Revolutionen geschlossen ist. Das ist in Unternehmen so, aber auch in Behörden und Schulen.
Auch die Erfahrungen mit digitaler Bildung gehören in dieses Raster, in dem die Ungleichheit verschärft wird. Diejenigen, die bereits auf dem Dampfer sind und digitale Technik nutzen können, weil auch bezahlen, sind klar im Vorteil gegenüber denen, die sich Devices vom Munde absparen müssen. Die schlechte Ausstattung in den Schulen betrifft dort erstmal alle SchülerInnen gleich, weil alle gleich betroffen sind. Sind diese SchülerInnen dann aber zuhause, werden die unterschiedlichen Zugänge und die vorhandenen technischen Geräte in ihrer ganzen Bandbreite erkennbar: Zuhause finden sich in den reicheren Haushalten Räume, Technik, Vielfalt (Smartphones, TV, Konsolen, Tabletts, Smart Home, Internetverbindung) und technischer Support durch die Eltern. Die nächsten Wochen von HomeSchooling werden die krassen Benachteiligungen nochmal auch im Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler hervorbringen – wenn sie etwa wochenlang nicht nur digital aus der Schule unterrichtet werden, sondern gleichzeitig in den Genuss von häuslicher Nachhilfe der bildungsnahen Eltern gelangen. Ein Test der Leistungsstände wäre wahrscheinlich verheerend.
Und dann ist da noch das zu erwartende riesen Loch in den Kassen der Kommunen, welches durch die wegfallenden Gewerbesteuern aufbrechen. (Sogar Miele und Bertelsmann als Weltkonzerne melden Kurzarbeit an. VW, BMW produzieren gar nicht mehr.) Auch hier gilt: die reichen Kommunen werden schneller wieder auf die Beine kommen als die armen Städte und Gemeinden. Ihnen geht es wie den prekär Beschäftigten wie oben: aus dem Minus heraus lässt sich noch schlechter Politik machen als schon zu Zeiten knapper Kassen. Um ihr Gemeinwesen wieder in Schwung zu bringen braucht es mehr Kraft und Fähigkeiten als noch vor der Krise, denn die Aufgaben zur Schadenbewältigung werden gewachsen sein. Und dann ist auch da noch die verschlafene Digitalisierung, niemand wird nun noch bestreiten, dass eine digitale Infrastruktur von existenzieller Bedeutung ist. Werden wir einen kommunalen Rettungsschirm sehen? (Über Entschuldung der Kommunen wurde auch vor Corona schon ergebnislos diskutiert.)
Wenn wir also aus der Krise etwas lernen wollen, das uns „nach der Krise“ zu einer besseren Gesellschaft macht, dann würde mir dies hier einfallen:
Townhalls in allen Kommunen – die Bürgerschaft, die gesamte Zivilgesellschaft sollte mit Politik und Verwaltung und auch mit Beteiligung der Wirtschaft und Verbänden darüber gemeinsam und öffentlich nachdenken, was wir und jede Gruppierung für sich aus dieser Krise gelernt haben. Die Neuordnung geht alle an, es ist eine Aufgabe für alle. Zumindest eine Auflistung der Dinge wie „was war gut“, „was war schlecht“, „was haben wir gelernt“ und welche Energie und Zukunftsimpulse lernen wir daraus? Welche davon werden künftig unsere politische, gesamtgesellschaftliche Agenda bereichern oder sogar bestimmen?
Es braucht nach dem Erstarren der Gesamtgesellschaft nun auch den Impuls aus dieser neuen Gemeinsamkeit heraus weiter zu denken und neue Formate für den Diskurs einzurichten. Denn vor allem aus der Solidarität heraus könnte dann annähernd so etwas entspringen wie Horx sich das wünscht, wenn auch weit weniger sozialromantisch. Wer aber zurückkehrt zu alten Mustern (will heißen, wenige entscheiden, wie es weitergeht, die „starken Führungspersönlichkeiten der Krisenzeiten machen so weiter), erlebt eine Zementierung von Spaltung, das Überleben der Starken und viel Raum für jede Art von Fantasten, denen nix an einem nachhaltigen, gerechten Leben in Vielfalt und Toleranz gelegen ist.