Verlorene Lebenszeit auf den Fluren deutscher Ämter

Eine neue Studie der Bitkom belegt: Behördengänge kosten die Deutschen im Schnitt zwei Stunden Wartezeit. Das ist für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger keine Neuigkeit. „Behördengänge“in Deutschland sind allbekanntlich mit Frust und Ärger verbunden. Wenn der Bürger auf den Staat trifft, scheint Unmut eine dazugehörige Begleiterscheinung zu sein. Nicht umsonst sind Witze mit Behörden zum Kulturgut avanciert.

In einer Pressemitteilung der Bitkom heißt es aktuell also: „Deutsche Behörden arbeiten nicht sehr bürgerfreundlich. Viele Menschen müssen sich extra Urlaub nehmen, um Behördengänge zu erledigen. Für diese Bürger heißt es dann Amt statt Strand“, sagt Bitkom-Präsident Achim Berg. “ Das Ziel müsse demnach sein, den Amtsgang möglichst ganz abzuschaffen, so die Aussage der Bitkom.

Bitkom Pressemitteilung August 2018

Verwiesen wird auf Dänemark als Vorbild. Hier seien Behördengänge durchgängig digital zu erledigen. Dazu gleich mehr.

Zunächst sei ein kurzer Blick auf digitale Vorreiterstaaten in der Nachbarschaft geworfen: In vielen Ländern um Deutschland herum hat man sich ans Werk gemacht, die neue Weltsprache von Null und Eins mit seiner Grammatik der disruptiven Geschäftsmodelle und einer neuen Haltung zu erlernen. Und anzuwenden. Estland avancierte in den letzten Jahren bereits zum Star der digitalen Möglichkeiten: Politik, Entwickler und Entscheider, sie haben keine Berührungsängste miteinander und vor neuen Herausforderungen. Sie lieben es, sich zu entwickeln, zu tüfteln. Mittlerweile gibt es sogar den gesamten estnischen Staat „to go“ – alle relevanten Daten liegen gespeichert in der Botschaft in Luxemburg. Man könnte diese Hochtechnologie auf die geostrategische Lage beziehen und mit der Angst der Esten vor Russland argumentieren – aber das wären eher neidische Wegwerfbewegungen derer, die lieber analog bleiben möchten. Ein regelrechter Digitaltourismus nach Tallinn ist in den letzten Jahren entstanden, jeder will sehen, wie das Digitale funktioniert. Nur um dann bei der Rückkehr nach Deutschland schon am Flughafen zu sagen, ja, aber… und geht in Deutschland nicht. 

Auch Österreich macht es vor – sie haben einen Spitzenplatz beim E-Government erreicht: die Österreicher etablieren auf gouvernementaler Ebene, wie sich Digitalisierung institutionalisieren lässt, auch, wenn es zunächst von oben herab verordnet ist, dann aber auf allen Ebenen gelebt wird. Der E-Government-Monitor 2017 weist in Österreich eine Nutzung der Dienste von 74 Prozent aus, in der Schweiz sind es 61 Prozent, in Deutschland nur 41 Prozent.

Jetzt also taucht auch Dänemark als neues Vorbild auf, wie hier in der Bitkom-Studie – obwohl die dänische digitale Strategie bereits seit 2016 wirkt: Sie zeigt, wie sich eine digitale Agenda durch das gesamte Land hindurchzieht. Ohne auf die Gemütlichkeit zu verzichten. 

Deutschland scheint immer noch die Notwendigkeit zu fehlen, Anschluss zu finden. Mit großer Noblesse erlebt man hier ganz ohne Aufschrei, wie sehr die Infrastruktur veraltet, wie Glasfaser ein Rohstoff der Zukunft, in anderen Nationen unter der Erde verlegt wird und damit zum Bodenschatz heranreift, während man in Deutschland gerade versucht, sich vom Credo der Vectortechnik zu verabschieden und nun doch erkannt hat, dass Glasfaser notwendig ist. Zumindest sprachlich rüstet Deutschland auf und ruft nun „Glasfaser first“, will gerne vergessen machen, wie viele Jahre dies bezweifelt und verschlafen wurde. Übrigens ein parteiübergreifendes Tiefschlafen. 

Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und Daseinsvorsorge sind mittlerweile global zu begreifen – sie hängen auch am Glasfaser. Digitale Strategien zum Erhalt unserer gewohnten guten Lebensqualität umfassen mittlerweile um so mehr auch die staatlichen Dienstleistungen, denn andere Bereiche des Daseins wie Arbeit und Freizeit der Menschen werden mit riesigen Schritten digital. Wenn wir also von Smart City, digitaler Region oder auch Smart Country sprechen, schwingt immer auch die Smarte Nation mit – die wir aber belegbar nicht sind. (Studien und Zahlen gibt es dazu wie Sand am Meer.) 

Wenn hier nun im Jahr 2018 immer noch davon die Rede ist, dass staatliche Dienstleistungen digitaler und damit schneller, mobiler und direkter abrufbar sein sollen, lohnte sich schon ein Export von „Impulsen“. Eben beispielsweise aus Dänemark. Nichts Kleineres als eine Digitalisierungsstrategie gibt hier die Richtung für die Zukunft des digitalen Dänemarks vor. Sie bezieht sich sowohl auf die administrativen Teile des Staates, der Kommunen und Regionen als auch auf ausführende Institutionen wie z.B. Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und so weiter.

Dänemark arbeitet seit 2001 gezielt daran, den öffentlichen Sektor mithilfe von Digitalisierungsstrategien effektiver zu gestalten. Der Begriff „gezielt“ offenbart den Unterschied zu Deutschland, die das fakultativ haben lösen wollen. Die Strategie besteht aus einer Vision, drei Zielen mit jeweils drei Schwerpunkten sowie 33 Einzelinitiativen. Die Vision der Digitalisierungsstrategie 2016-2020 lautet: „Öffentliche Digitalisierung schafft Wert, Wachstum und Effizienz, und trägt zur Stärkung des Vertrauens der Dänen in die digitale Gesellschaft bei.“

Die Zusammenarbeit zwischen Kommunen, Regionen und dem Staat hat nachhaltig gute Ergebnisse erzielt. Als Beispiele werden die digitale Post für Bürger und Unternehmen sowie die Verbreitung digitaler Selbstbedienungsangebote in mehr als 100 Bereichen angezeigt.

Angedockt wird an der Anpassungsfähigkeit der dänischen Gesellschaft und der Nutzung technologischer Möglichkeiten, um Wohlfahrt und Wachstum zu schaffen. Gleichzeitig soll das Vertrauen in die digitale Gesellschaft gestärkt werden. Die Strategie sieht vor, dass der öffentliche Sektor eng mit Wirtschaft und Verbänden u.a. zusammenarbeiten muss (!), um die Basis für eine flexible und anpassungsfähige Gesellschaft in einer zunehmend digitalen Welt zu schaffen. So findet es sich in der Erläuterung der Strategie. Liest man als Pendant dazu die „Digitale Agenda“ der Bundesregierung in Deutschland als zeitgleiches Papier, die mit Hilfe einer großen Koalition zustande kam und auf das Jahr 2017 finalisiert ist (also ganz simpel an Wahlperioden gekoppelt ist und damit die Haltbarkeit bereits in Frage gestellt ist), fragt man sich, warum bisher kaum 40 Prozent davon umgesetzt wurden und viele von den Vorhaben immer noch nur auf dem nächsten Papier der Koalition von 2018 stehen. Liegt es wieder an der Sprachlosigkeit vieler Entscheider, die die Codes und Regeln nicht verstehen, dass aus einer Agenda keine Zukunft gestrickt werden kann? Ist es schwierig, darüber zu sprechen, wie fundamental diese Änderungen sein werden und wie vage die Antworten darauf bisher sind? Dass damit sogar die Grundzüge einer kapitalistischen Weltordnung zu wackeln beginnen, weil Informationen anders ticken als herkömmliche Produkte? Weil Daten andere Möglichkeiten und Wertschöpfung ermöglichen als das bisher überhaupt denkbar war?

Die Dänen zeigen, wie man den Wandel vermitteln kann: Hier heißt es, das Digitale muss gute Qualität gewährleisten und einfach und schnell sein. Diesen Ansatz angewandt an die Interaktion von Bürgern, Wirtschaft und Staat wäre schon mal eine Grundlage auch für Deutschland. Wir ständen nicht vor der Frage, wie wenig man mit einem elektronischen Personalausweis bewerkstelligen kann für dessen Nutzung ein teures Lesegerät angeschafft werden muss, um dann doch Minimales damit ausrichten zu können. Oder auch DeMail. Die Kommunikationskrücke zwischen Staat und Bürgern, die in der Sackgasse steckt aber immer noch im Munde geführt wird.

In Dänemark sollen die Dänen erleben, dass öffentliche Digitalisierung einen spürbaren Mehrwert im Alltag bereit hält. Der öffentliche Sektor muss digitale Dienstleistungen erster Güte anbieten. Digitalisierung muss den Alltag erleichtern, die Bürger selbständiger machen und mit mehr Qualität im öffentlichen Serviceangebot einhergehen. Die Behörden müssen relevante Informationen teilen und besser zusammenarbeiten. Und die Digitalisierung muss an einem kohärenteren und gut funktionierenden öffentlichen Sektor mitwirken. – So lautet ein Bündel an Thesen, die öffentlich zu lesen sind – schon seit langem. Dieser Thesenstrauß wäre ein probater Exportschlager, der als Ziel fixiert in Deutschland für Furore sorgen könnte. Bisher wird genau an diesem Ansatz politisch unwillig herumlaboriert. Seit Jahren. E-Government wird das genannt – zynische Zungen meinen, das sei ein totes Pferd. (Ich gehöre auch dazu.)

Ein Vorankommen liegt eher in den Hände von Initiativen und Nerds (CivicTech), die gerne belächelt oder belobigt werden, je nachdem, wie es in den politischen Kurs passt – aber leider noch nicht flächendeckend durchdringen. Zu stark ist das Festhalten zahlreicher Entscheider am bekannten Analogen. Ohne Papier ist in Deutschland nichts. Ohne Papier, welches durch die Behördenhände gewandert ist. Und ohne Hängeregistratur geht gleich gar nichts, gerade erprobe ich das im Gesundheitswesen. Das Land der Dichter und Denker hält fest an Zellstoff und Regelbrettern in Amtsstuben. Treten Sie vor! – Doch die Bevölkerung will das so nicht mehr. Ein Klick und alles ist erledigt – das ist der Wunsch der Zeit. Die neuen Gov-Chatbots sind erste Vorboten der Veränderung. 

Bisher aber muss „der Bürger als Kunde“ noch vortreten – und wie die Bitkom belegt, warten. Auch die Wirtschaft steht ebenfalls noch an. In Dänemark heißt das längst: Öffentliche Digitalisierung muss gute Bedingungen für Wachstum schaffen. Öffentliche Digitalisierung soll Unternehmertum erleichtern. Das Ziel ist, den Bürokratieabbau mit Hilfe einer automatisierten Geschäftsberichterstattung voranzutreiben. Alle unternehmensorientierten öffentlichen Dienstleistungen müssen beim Portal „virk.dk“ integriert werden und Unternehmen müssen mit einem öffentlichen Sektor interagieren, der ihre digitale Umstellung unterstützt. Die Wirtschaft muss Zugang zu mehr öffentlichen Daten erhalten, die Grundlage neuer Geschäftsmöglichkeiten und Innovation bilden kann. Ein zweiter Strauß an Thesen in Dänemark, zugänglich auf einer öffentlichen Website. Kann man von überall her lesen. Kann man importieren. Kann man ausdrucken. Kann man nachfragen, wie die das gestemmt bekommen.

Und dann ist da noch der dritte Aspekt: Sicherheit und Vertrauen gehen vor, so Dänemark: Das hohe Maß an Vertrauen der Dänen untereinander sowie in den öffentlichen Sektor ist das Fundament der Wohlfahrt. Die Dänen verbessern die Informationssicherheit des öffentlichen Sektors sowie stärken zugleich die digitalen Kompetenzen der Bürger und Unternehmen. – Ähnlich ist das auch in Estland. 

Wieder auf der öffentlichen dänischen Website heißt es: Gesellschaftskritische öffentliche digitale Infrastruktur muss robust sein und den Bedürfnissen der Benutzer dienen. Gleichzeitig muss Dänemark eine Gesellschaft sein, in der jeder mitmachen und teilhaben kann – das gilt auch für Bürger, die keine digitalen Dienstleistungen in Anspruch nehmen können bzw. denen diese Möglichkeit verwehrt ist.

Wer bisher mit Sprachlosigkeit rang, was die digitale Transformation angeht, kann aber zumindest lesen. Und findet so viele gute Beispiele in anderen Ländern, so viele konkrete Anwendungen, dass man diese wirklich nur aufgreifen muss – und nahtlos in Deutschland umsetzen könnte. Sogar die dänische Sprache ist kein Hindernis, denn die Web-Seiten gibt es auch auf deutsch.

Wer jetzt in diesen Tagen immer noch davon ausgeht, dass Warten und Verplempern von Lebenszeit auf den Fluren der Amtsstuben zum Kulturgut gehören, der will nicht. Da helfen dann auch keine Projekte wie Smart City oder digitaleRegion oder Smart Nation. Da bleibt nur Deutschland 1.0. Und am Ende die politische Verantwortung dafür, dass wir auf der langsamen Leitung stehen. Vor allem die Menschen im ländlichen Raum spüren das bereits deutlich, wie das ist, abgehängt zu sein. Demnächst werden sie nach Dänemark, Estland, Österreich und Schweden eingeladen – als Zeitzeugen aus dem Zeitalter des Analogen und wie das ist, auf dem Behördenflur zu sitzen und zu warten. 

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