Virus hier – Wir als Gesellschaft dort – vom Kleinen und Großen

Die Welt im Corona-Virus-Modus macht mir klar, wie granular eigentlich unsere Weltbetrachtung wieder werden muss. Denn die Sache ist komplex. Ein paar Gedankensplitter zum „Virus hier, Wir als Gesellschaft dort“. Dieser Tage liegt das Ausloten der Zukunft ausschließlich zwischen diesen gigantischen Polen. Je mehr an Erfahrung wir im Umgang gewinnen, desto stärker greift das offenbar wirksame Handlungsmuster vom „großen“ auf „kleinen“ Maßstab zu zoomen. Erst mit dieser Differenzierung und Brennglasverkleinerung dessen, was gerade passiert, werden wir wirkmächtig. Diese gebotene Differenzierung und Kleinteiligkeit wird unsere Welt verändern, und zwar deshalb, weil wir zum ersten Mal wirklich erfahren, dass sich das große Weltgeschehen ganz individuell auswirkt und niemand ausgeklammert bleibt.

 

je granularer desto besser

 

Das Virus ist winzig. Mit dem menschlichen Auge allein sehen wir den Erreger nicht. Erst die technische Errungenschaft eines Mikroskops macht es möglich, dass wir den aggressiven Menschenfeind erkennen können. SARS-CoV-2  zeigt eine Genomgröße zwischen 29.825 und 29.903 nt. Seine Winzigkeit ist kein Hindernis für seine Weltreise, im Gegenteil: Sein Ursprung liegt vermutlich in der Provinz Wuhan in China. Wie wir alle wissen, hat es sich mit Windeseile einmal um den Erdball verteilt. Der Erdumfang beträgt 40.075 Kilometer, an Oberfläche sind es 510.100.000 km², auf ihr leben fast acht Milliarden Menschen. 

Wenn SARS-CoV2 also dem Menschen gefährlich wird, sind grundsätzlich acht Milliarden Menschen als potenzielle Wirte gemeint. Bisher scheint es das Allgemeinverständnis zu geben: Alle Menschen sind vor dem Virus zunächst einmal gleich. Weil die Bauart der Menschen eben auch „gleich“ ist. Der „Mensch steht im Mittelpunkt“ aller Schutzbemühungen scheint hier eine besondere Bedeutung zu bekommen. Die trifft aber, so schrieb es schon Adorno, nicht zu, es ist lediglich eine Beruhigungsformel, denn der Mensch ist längst ein Objekt geworden, das es zu steuern gilt. Und das Objekt Mensch erscheint im Coronamodus reduzierbar auf seine lebensnotwendige Funktion: Menschen atmen, sie brauchen Sauerstoff. Alle nutzen dazu einen menschlich gleichen Bausatz wie Atmungsorgane, Mund, Nase, Rachenraum – und eine Lunge. Covid19 zielt also auf rund acht Milliarden menschlicher Lungen. Er zerstört sie, im schlechtesten Fall. Der Angriff geht also in erster Linie nicht gegen die Menschheit an sich, sondern gegen ein Körperorgan. Bisher traf dies in der Regel alle Menschen als Lungeninhaber potenziell gleich.

Doch wir erleben die globale Jagd nach Beatmungsgeräten, die dem Säugetier Mensch das Überleben sichern sollen, wenn der Krankheitsverlauf negativ wird. Aus Bergamo in Italien lernen wir, dass Persönlichkeit keine Rolle mehr spielt, zu viele Infizierte, Name und Status rutschen ins Egal. Eine Lunge wird nur noch danach beurteilt, ob sie biologisch ausreichend in der Lage ist, Sauerstoff aufzunehmen. Der Fitteste überlebt. Das ist Darwinismus und setzt auf die Stärksten einer Gattung, denn nur die überleben. Der Mensch ist kleinster Teil seiner großen globalen Gattung. Der reinen Biologie wird jetzt die Ethik gegenüber gesetzt, die zu entscheiden hat, wer überleben darf und wer nicht. Aus der Masse kommend setzen wir hier doch wieder aufs Individuum, auf die einzelne Naturrobustheit.

Nach den ersten Erfahrungen zeigt sich also, dass die Gleichung „Virus“ und „Wir in der Welt“ nur grobe Überschriften sind, denen sich nach und nach vertiefende Kapitel anschließen, die immer granularer, also feinkörniger in der Betrachtung werden. Und auch Handlungen und Maßnahmen gegen die Pandemie hervorbringen.

Aus dem „wir sind alle gleich“ ist schnell die Differenzierung entstanden, dass es doch definierte Risikogruppen gibt. Wir lernen in neuer Wortkopplung dazu den Begriff „vulnerabel“, also verletzlich. Besonders vulnerable Gruppen sind offenbar:

  • Ältere (ab 50/60
  • Hochbetagte ab 80
  • Vorerkrankungen: Herzkreislaufstörungen, Diabetes, Atemwegserkrankungen, Leber-, Niere- oder Krebserkrankungen – unabhängig vom Alter
  • Menschen mit geschwächtem Immunsystem
  • Menschen, die Medikamente einnehmen, die die Immunabwehr unterdrücken (wie z.B. Cortison)

Kinder dagegen seien bisher eher weniger gefährdet, aber auch sie sind Überträger, Wirte. Und wir lernen gleichzeitig bei jeder Nachrichtensendung: Die Gefährdung variiert von Region zu Region. Die Belastung des Gesundheitswesens hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen  wie Isolierung und Kontaktsperren, sie kann örtlich sehr hoch sein. Wir sehen die Bilder von Bergamo, von Madrid und auch New York und wissen, was gemeint ist. Die menschlichen Lungen in diesen Gebieten sind aggressiv bedroht. Vulnerabel ist also auch, wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist.

Es gibt also Menschen, die sich mehr fürchten müssen vor dem, was kommt, entweder, weil sie vorerkrankt sind oder in einer besonders betroffenen Region leben. Dieser Schutz wurde bisher von allen aus der Gesellschaft als Gemeinschaftsaufgabe gesehen – und bisher praktiziert. Daraus ist die Offensive „flattern the curve“ entstanden. Das Ziel, den exponentiellen Anstieg der Infektionen möglichst lange hinaus zu zögern, so dass das Gesundheitssystem nicht auf einen Schlag die Aufgabe stemmen muss, sondern langsam und wenn dann anhaltender. Diese Gleichung ist mittlerweile zu einem gesellschaftlichen Glaubensgrundsatz avanciert, das elfte Gebot kommt mit Atemmaske daher und ist so tragfest, dass eine komplette Volkswirtschaft mit Bruttoinlandsprodukt der Einsatz ist.

 

kleine Hilfen in großen Zeiten

 

Schutz erfolgt in kaskadierenden Maßnahmen, von groß zu klein

Niesettiquette

Es ging ganz harmlos los: Um die Risikogruppe zu schützen, um eine Verbreitung zu unterbinden, müssen alle mitmachen. Sich solidarisch zeigen. Mundschutz, Desinfektionsmittelnutzung, häufiges Händewaschen, die Nies- und Hustenetikette einhalten gilt als lebensrettend. Wenn sich jeder dran hält, zahlt das ein auf die Gemeinschaft. Eine Miniaturgebilde an Wirksamkeit angesichts der großen Herausforderung, dass es keinen Impfstoff gibt und offenbar keine pharmakologischen Maßnahmen, die wirken. (Einzelne Test mit Medikamenten werden durchgeführt, aber ohne Anspruch auf Heilung oder gar Immunisierung.)

Quarantäne 

Die ganz große Maßnahme ist Quarantäne für Infizierte oder potentiell Infizierte. Sie bleiben von sich aus #zuhause – der Hashtag für die neue Kasernierung im eigenen Heim. Ziel: Unterbrechung der Infektionsketten. Mit weltweiter Wirkung übrigens. (Pandemie bedeutet, das, was wir hier vor Ort erleben und denken, haben wir global zu denken also potenziert, zwar mit den jeweiligen nationalen Eigenheiten, aber dennoch als verbindendes Element der tödlichen Gefahr – Mensch, Virus, eine Erde, wir sind alle sterblich. Da ist es wieder, das ganz große Bild in dem wir stehen.)

Soziale Kontaktsperre 

Der nächste Schritt vom großen Gesellschaftsverhalten hin zum kleinen Tun ist die soziale Kontaktsperre. Nur zwei Menschen auf einmal dürfen sich öffentlich bewegen. Kernfamilien, Ehepaare, Menschen, die eng zusammen leben. Sonst ist ein Abstand einzuhalten von 1,5 bis 2 Meter. Zwei Meter sind zwei Schritte. Hätte mir das jemand vor ein paar Wochen gesagt, als ich in der S 3 von Hamburg Harburg nach Veddel fuhr, wie eine Ölsardine eingequetscht in alle Nationalitäten der Welt – 2 Meter wären ein Witz gewesen.

Körperkontakt ist aber heute kein sozialer Akt mehr, sondern bußgeldpflichtig. 200 Euro, wer sich nicht dran hält oder z.B. seine Angehörigen im Heim besucht. Die Kontaktsperre wird mehr oder weniger eingehalten, nach anfänglichen Corona-Party-Ausbrechern. 95 Prozent der Deutschen finden sie in Ordnung,  das ergab eine Blitzumfrage im ARD-Deutschlandtrend; auch so ein kleinteiliges Instrument für die große Bevölkerung von 83 Millionen Menschen. Das beinhaltet auch den Lockdown des wirtschaftlichen Lebens. Alles, was nicht versorgend ist, schließt. Nur der Blumenladen MIT Hundefutter darf auch noch öffnen. Aus dem großen Ganzen einer komplexen Weltwirtschaft extrahieren sich kleine Ausnahmen. Die Welt schrumpft auf einen heimischen Marktplatz zusammen.

Gesetze 

Der Staat hat mit steigenden Fallzahlen verstanden, worum es geht: sein Handeln wird granularer, um wirksamer zu sein. Er justiert sein Handwerkszeug für Schutzmaßnahmen. Erlässt Erlasse, bastelt Gesetze, die wieder das große Ganze im Blick haben, aber jeden Einzelnen zum Ziel. Das große Konzept der Demokratie wird damit kleinteilig untertunnelt. Covid19 ist für viele mittlerweile nicht nur ein Menschenfeind, sondern auch einer gegen die Demokratie. Nicht nur der Mensch, auch die Freiheit muss zuhause bleiben? Ein Beispiel aus NRW zeigt dies angesichts eines Epidemiegesetzesentwurfes, der auf unbefristete Zeit verabschiedet werden sollte:

Mit dem „Epidemie-Gesetz“ (Gesetz zur konsequenten und solidarischen Bewältigung der COVID-19-Pandemie in Nordrhein-Westfalen und zur Anpassung des Landesrechts im Hinblick auf die Auswirkungen einer Pandemie; 17/8920) sollen Vorkehrungen für den Fall einer sich weiter verschärfenden Pandemie-Lage getroffen werden. (…)

Es schafft laut Entwurf „ein Regelwerk zur Bestimmung besonderer Handlungsbefugnisse im Rahmen einer epidemischen Lage von nationaler oder landesweiter Tragweite“. Geplant ist demnach u. a., dass „medizinisches, pflegerisches oder sanitäres Material einschließlich der dazu gehörigen Rohstoffe sowie Geräte für die medizinische und pflegerische Versorgung“ sichergestellt werden können. Medizinisches und pflegerisches Personal sowie Rettungskräfte sollen zum Pandemie-Einsatz verpflichtet werden können. (…)Das Gesetz sei für den „absoluten Katastrophenfall“ gedacht, um Handlungsmöglichkeiten zu haben. Er hoffe, dass es nie gebraucht werde. (Quelle: Landtag NRW, 1.4.2020)

Ein Angriff eben nicht nur auf Körperlichkeit und Lungentätigkeit, sondern auch auf unsere Gesellschaftsordnung, hier vor allem unsere Demokratie, der nach und nach Sauerstoff entzogen wird anstatt sie beatmen zu können. Ein Sturm der Entrüstung brach ob des Entwurfes los, bisher ist das große Gesetz so erstmal ausgebremst, kleine Nachbesserungen aber werden es nicht vom Tisch kriegen.

Daten und Datennutzung 

Die staatlichen Schritte gehen aber längst weiter. Wir diskutieren freiwillig auf höchstem Niveau über Überwachung, Tracking von Daten, Apps mit Covid19-Wissen „ich bin infiziert, du bist in Gefahr“.

Seit wir mit „der Kurve“ der Infektionen Bekanntschaft gemacht haben, wissen wir: das Virus ist auch Mathematik und die Szenen der Berechenbarkeit laufen auf Hochtouren. Apps, die Kontakte registrieren und die Träger (Infektion und Smartphone) warnen, liefern diese mathematische Schutzwälle gleichsam aus dem Hintergrund. Die schlauen Algorithmen sind unsichtbar, wie der Virus auch. Wir sehen sie nicht, und sie wirken trotzdem. Wohl dem, der weiß, wie sie arbeiten.

Als einen der weiteren riesigen Versuche, die Pandemie in den Griff zu bekommen, sprechen wir nun über die Datennutzung durch Handys, die den Kontakt mit möglicherweise Infizierten erkennen und weiterleiten. Die Diskussion um die Nutzung solcher Mobilitätsdaten startet gerade erst. Jeder Zweite hat nichts gegen die Nutzung von Handy-Daten im Einsatz gegen Corona, schreibt das Online-Magazin Heise.

Datenschutz und Datennutzung in dem Fall müssen kein Widerspruch sein, schreibt netzpolitik.org.

In einem rasch betriebenen Gesetzgebungsverfahren haben Bundestag und Bundesrat das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ verabschiedet. Das Gesetz schafft im Infektionsschutzgesetz weitreichende – und teilweise nicht unbedenkliche – Befugnisse des Bundesgesundheitsministeriums, um einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ zu begegnen.

Eine Regelung zur Abfrage von Funkzellen-Daten ist in dem verabschiedeten Gesetz hingegen nicht mehr enthalten. Die ursprünglich vorgesehene Regelung sollte den Gesundheitsbehörden ermöglichen, „zum Zwecke der Nachverfolgung von Kontaktpersonen“ „technische Mittel“ einzusetzen und von den Anbietern von Telekommunikationsdiensten Verkehrs- und Standortdaten herauszuverlangen. Die Begründung des Gesetzentwurfs verwies hierzu auf „internationale Erfahrungen“ etwa in Südkorea. Standortdaten von Mobilfunkgeräten könnten dazu genutzt werden, infizierte Personen und ihre Kontaktpersonen gezielt zu lokalisieren und zu informieren sowie Infektionsketten zu rekonstruieren.

Diese Regelung tritt nun vorerst nicht in Kraft, ist aber auch nicht endgültig vom Tisch. Nach der Verabschiedung des neuen Gesetzes im Bundestag betonte der Bundesgesundheitsminister in einer Pressekonferenz nochmals, die Bundesregierung wolle zur Kontaktnachverfolgung auf Handydaten zurückgreifen.

 

Roboter im Einsatz 

Und auch die sonst so weit weggerückte Künstliche Intelligenz erlebt ihre Nagelprobe mit kleinen Einsätzen: sozusagen als gewünschte Überwachung von Menschen, die etwa die Ausgangssperren nicht befolgen. In Brüssel schweben Drohnen über der Stadt und überwachen die Einhaltung, können auch „aus der Luft“ heraus kommunizieren. Die da unten ansprechen und nach ihren (hoffentlich berechtigten) Gründen für den Ausgang fragen. In Tunis, Tunesien, erledigen das fahrende Roboter, die durch die Stadt patrouillieren, gesteuert von Polizisten in einer weit entlegenen Einsatzzentrale. Auch sie kommunizieren und kontrollieren etwa Ausweispapiere, denn sie verfügen über Video. Es sind kleinste innovative Technikerrungenschaften, vernetzt einsetzbar, die große Dinge bewegen. Erfahrungen mit solchen Instrumenten verschwinden am Ende nicht einfach in der Schublade. Lange haben wir mit schiefen Blicken auf Chinas Social Scoring geschaut, Fehlverhalten wird mit KI aufgedeckt und getadelt. Millionen Menschen geraten unter dem Brennglas der Künstlichen Intelligenz zum heraussezierten Individuum. Peru mutet dagegen fast schon analog an, denn hier gilt die Ausgangssperre aufgeteilt zwischen den Geschlechtern: Männer dürfen an einem Tag vor die Tür, Frauen an einem anderen. Die Welt geteilt in zwei Hälften.

Wenn jetzt in großem Stil darauf getestet wird, wer Corona überlebt hat, ist man damit auf der Suche nach Antworten aus einem überlebenden Körper, sprich: Immunstärke. Die Krankheitsverläufe variieren, stellt man fest, es gibt kein Schema F. Die Medikamente wirken unterschiedlich. Die jeweilige körperliche Leistung Einzelner zahlt möglicherweise auf die Resilienz von Vielen ein. Demnach sind 24 Prozent der bekannten Infizierten in Deutschland wieder genesen, so eine Aussage von Statista. Herdenimmunität ist damit zwar immer noch nicht gegeben, aber damit ist ein nächster Weg beschritten, um vom Einzelnen diesmal auf alle zu schließen. Aus dem Kleinen soll etwas Großes werden, Immunität als Schutzschild. Gleichzeitig werden wir um die Erfahrung reicher, dass wir alle zwar den gleichen biologischen Aufbau haben, dann aber  doch individuell reagieren. Gestartet wird mit dem Patienten Null, um schnell zu merken: Der Mensch ist einzigartig. Und das lässt sich künftig auch auf die systemrelevanten ArbeitnehmerInnen übertragen: Ärzte, Pfleger, Kassiererinnen, Erntehelfer. Auch sie sind Menschen und an erster Stelle vulnerabel. Wird man diese neuralgischen Schwachpunkte in der Arbeitswelt künftig durch KI ersetzen? Roboter im Krankenhaus, in der Pflege, sie reichen dann das Videotelefon, beim Ernten, die Plexiglasscheibe an der Kasse weicht dann einem Barcode und Ware wird nur noch gescannt bezahlt?

 

 

Neue Koordinaten für das menschliche Sein

 

Gentestung 

Gleichzeitig wird nach der Corona-Krise das Nachdenken über Pandemien wie diese nicht in die Flasche zurückkehren. Was einmal passiert ist, kann sich wiederholen. Wie lässt sich eine Gesellschaft auf Dauer schützen? Mit graunlarem Wissen. Dazu wird ganz bald die Debatte um Gentestungen in der Bevölkerung auftauchen. Wer ist eigentlich wie disponiert? In Island erfasst man die Gesellschaft bereits mit Corona-Tests umfänglich. Es leben dort rund 365.000 Menschen, Island blickt auf jahrelange Erfahrung mit der Testung von genetischem Material der Bevölkerung.  Das Erbgut der Insulaner ist bestens erforscht, ein Ethikausschuss überwacht den Zugang dazu. In Estland denkt man darüber nach, die Bevölkerung in ähnlicher Weise zu untersuchen: Erbgutwissen ist Trumpf über die Zukunft. In den USA kann man sich für 99 Dollar bei der Firma 23andme ein Set an Gentest kaufen: „Finde heraus was DNA über dich und deine Familie aussagt“.  – Je granularer die Informationen sind, desto besser kann man handeln und Sicherheit schaffen – vor dem Hintergrund wird sicher die Notwendigkeit der Gentestung auch in Deutschland vorangetrieben – ihre bestes Pro-Argument bis jetzt: Der Shutdown der Weltwirtschaft. Geld versus intimste Informationen über den eigenen menschlichen Bausatz. Der Mensch ist also nicht „ein Mensch“, sondern die Summe seiner Gene und gesamtgesellschaftlich relevant.

Wie wertvoll ist ein Leben

Und es geht sicher nun in die nächste Runde der mathematischen Berechnungen: Politische Entscheider hierzulande sind bereit, die komplette Volkswirtschaft des Landes lahm zu legen. Mit ungewissem Ausmaß und mit jetzt schon absehbaren milliardenschweren Schäden. Die Wirtschaftsweisen berechneten nun gerade die Verluste anhand der möglichen Kontaktsperreszenarien von einigen Wochen bis drei Monaten. Niemand weiß, ob diese Maßnahmen der Kontaktsperre etc. dann auch helfen – und wann die Gefahr langfristig gebannt sein wird. Sollen jetzt Lockerungen folgen? Ist es überhaupt sinnvoll, die gesamte Bevölkerung zu adressieren, reicht nicht die Begrenzung auf Risikogruppen? Wer wäre überlebensfähig und resilienter – und wer nicht? Berechnungen werden sicher längst angestellt, die den Wert von möglichen Sterberaten gegen den des rigorosen Niedergangs der Wirtschaft gegenrechnen. Wie hoch ist ein Menschenleben zu bepreisen? Und wird es im Alter billiger? Volkswirtschaftlich empathielos dürfte es möglicherweise ein Gewinn sein, wenn in einem Staat mit demografischem Faktor der Überalterung eben die Älteren als potenzielle Risikogruppe wegsterben: sie entlasten die Sozialkassen, sie vererben Ersparnisse, Immobilien und Werte – Dinge, die man staatlich nach der Krise höher besteuern könnte, um die Folgen von Corona zu finanzieren. Ein Algorithmus berechnet 83 Millionen Menschenleben minus Menschenmenge x der Verstorbenen und erhält ein Ergebnis, mit dem künftig jeder Einzelne von uns wird leben müssen, wenn der Lockdown gelockert oder aufgehoben werden würde. Könnte es mich, könnte es meine Angehörigen treffen? Muss die Welt auf die Schwächsten warten? Und sind ein paar Hundertausende Tote es nicht doch wert, dass das Gros der acht Milliarden überlebt, herdenimmun, wirtschaftlich?

Covid 19 – von der Blackbox zum alten Bekannten 

Zeitgleich mit den politischen Veränderungen lernen wir fast täglich mehr über das Virus selbst – und seine Beziehungen zur Welt. Die mediale Welt kommt nicht mehr ohne aus. SARS-CoV2 ist so klein und doch so mächtig – und der Star der Medien. Die für mich aufschlussreichsten Informationen zu diesem Menschenfeind liefert Christian Drosten, Leiter der Virologie in der Berliner Charité in seinem Podcast  mit den Journalistinnen Korinna Hennig und Anja Martini.  Wir lernen hier in jeder Folge über die Spurensuche der Forschung und neueste Erkenntnisse zum Pandemie-Verlauf. Wir werden begleitet von der großen ersten Gefahr „Covid19“ als damalige Blackbox des Wissens bis hin zu jeder Nuance des mörderischen Virus und sein Wirken auf dem Globus. Früher war Corona eine Erkrankung in China, heute wissen wir, wie es aussieht und wie es wirkt. Wir sind allesamt Kenner geworden, vom Großen ins Kleine.

Wer ist der Mensch in Zeiten der Gefahr?

Ein Virus macht uns allesamt zu Lernenden. Wir leben in einem lifetickenden Labor ohne Versuchsanleitung. Es wirkt, als säßen wir in einem interdisziplinären Proseminar (global, national, lokal). Und sind damit im besten Sinne auf dem Boden der Wissenschaften angekommen, mit Unsicherheiten. Im Denkbereich derer, die derzeit die Souffleure hinter der Akteursbühne sind. Wir laborieren, stellen Hypothesen auf, hinterfragen und argumentieren, setzen uns auseinander, um zu einem Schluss zu kommen, nicht selten auch zu Handlungsfähigkeit. Bisher waren wir sehr leidenschaftslos, wenn es um Antizipation geht, sagt Thomas Druyen. Antizipieren von Zukunft war nicht gefragt. Doch jetzt werden wir allesamt hineingespült in einen nie gekannten Experimentiermodus – die Ausnahme ist die Regel, das Ausloten von Möglichkeiten ist zur Notwendigkeit avanciert. Eigentlich ist das das Leben pur. Und was da zählt, ist eigentlich ganz simpel: der Mensch, er will überleben. Und seine Gattung gleichfalls. Dazu braucht es genau das: die Kleinen Dinge, die im Großen münden. 

Was heißt das für die Politikgstaltung? Wir brauchen nicht nur ein Mikroskop zum Erkennen eines Virus, sondern wir bauchen auch ein Mikroskop für unser Zusammenleben, wir müssen neu ausloten, große Themen und kleine Wirkungen oder kleine Ursachen und großen Wirkungen, um ab jetzt alles neu unter die Lupe nehmen. Und erkennen, dass uns viele kleine Dinge in den letzten Jahren durch die Lappen gegangen sind, die sich bereits mikroskopisch winzig angekündigt haben. Etwa die frühzeitige Erkennung einer Pandemie. Den Klimawandel. Wir waren zu leidenschaftslos, um zu antizipieren. Jetzt ist die Chance da, die kleinen Dinge neu zu bewerten, wie etwa Daten, Gene, Solidarität und Menschlichkeit. Ja, und auch die Mathematik als ziemlich menschlich zu würdigen. Wir verschieben das Große ins Granulare.

 

 

 

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