Wenn man so auf dem Parkplatz wartet…

… kann man genauer hinschauen:

Was bleibt, ist ein diesmal fast analoger Blick auf unsere Zeit. Ein paar lokale Eindrücke aus einem parkenden Auto heraus, zur Verortung der Koordinaten Ausbeutung, entfesselter Kapitalismus, Individualisierung, jeder seines eigenen Glückes Schmied im globalen Run:   

Auf dem Parkplatz wälzen sich die Blechlawinen durch die schmalen Fahrwege. Plattgefahrene Randsteine und niedergewalzte Rabatten zeigen Spuren verbotener Querfeldeinfahrten. Seitdem die SuVs reißenden Absatz gefunden haben, ist das Platzproblem beträchtlich gestiegen. Parken frisst Fläche. Das Kurven für einen Parkplatz dauert länger als je zuvor. Parken frisst Zeit. Während sich die ruinösen Luxuskarossen die Schau stehlen, weil ein Fahrer immer größer und edler ist als der andere, fährt auf der gegenüberliegenden Straßenseite einer dieser dreckig-weißen Reisebusse vorbei, die mittlerweile zum Stadtbild gehören.

Ein Gemisch aus Schlamm und Verwahrlosung umgibt das rostige Fahrzeug, welches in seiner Erbärmlichkeit ausschaut, als habe es gerade eben den Weg aus einer namenlosen Tundra am Ende der Welt hierher geschafft. Beim Anfahren pufft schmutzig schwarzer Russ aus dem Auspuff, der sich langsam um die Reifen legt, wenn das Transportmittel an der Ampel zum Stehen kommt. Drinnen sitzen Rumänen und Bulgaren. Die Busse sind bekannt, jeder hier kennt ihre Richtung. Sie biegen gleich ab an der Ampel über den Ring, sie fahren die Insassen zu einer der größten Schlachtereien im ganzen Bundesgebiet. Geschlachtet werden Schweine im Akkord, zum Metzgern angestellt sind überwiegend Osteuropäer. Das Ampelrot beschert Wartezeit und einen Blick zur Seite auf die, die da drinnen mitfahren in dem Tote-Augen-Express. Männer mit Wollmützen bis tief in die Stirn gezogen. Ihre Köpfe müde gestützt auf Arme, teilnahmsloser Blick durch die schmutzigen Scheiben von oben herab aus ihrer Busperspektive auf die quirlige Vorweihnachtswelt, die eilig ihre Einkäufe verrichtet – und zu der sie nicht gehören. In den Supermärkten liegen später die Tiere, die sie gleich im Sekundentakt töten, abgepackt in kleinen Portionen. Das ganze Schwein muss in die Wurst.

Sie leben und arbeiten unter Bedingungen, die gerne mit prekär umschrieben werden, was aber nicht zu beschreiben vermag, was hinter Niedriglohn, Ausbeutung, menschenverachtend und Elend eigentlich steckt. Sie sind die modernen Sklaven einer Nation, die gerne Fleisch isst und dafür eine Industrie benötigt, deren Herstellungspraktiken nicht relevant sind.

Die Ampel zeigt grün. Das moderne Proletariat im rußigen Bus fährt weiter. Kurz vor ihnen hatte an gleicher Stelle der Sattelzug an der Ampel gehalten. Ein Schlepper mit Anhänger. Voll beladen mit Schweinen, die zur Schlachtbank fuhren. Durch die Luftschlitze konnte man sie sehen, ihre beigefarbenen Leiber, ihre Beine – von Näherem auch ihre Rüssel und Augen. Blitzende Augen, lebendig und neugierig. Bogen sie ab nach rechts, betrug ihre Lebensdauer nach Grünschaltung bis zur Ankunft vielleicht noch eine knappe Stunde. Sie hatten keine Ahnung, dass ihre Schlachter nur wenige Ampelschaltung später die gleiche Richtung nahmen und ihnen folgten. Das letzte Stündchen bis zur Wurst. Sie sind sich näher als sie denken, die Schweine und die Schlachter. Ein Kotelett auf dem Teller hat zu schmecken und günstig zu sein. Was vor dem Tod in der Pfanne bestand, wer da alles servierfertig vorbereitete, wird ausgeblendet.

Mitmenschlich soll es sein. Vor allem zu Weihnachten. In den Zeitungen ist gerade Hochzeit für die guten Taten gegen Armut. Jede Seite voll, lokal und global. Geschenke sind erbeten, man möge als Pate Päckchen packen für Kinder und arme Familien, die bedürftig sind. Wie in einer Lotterie besteht die Auswahl an Kategorien der zu beschenkenden Mittellosen: Mädchen, Jungen, Alter. Wir kennen die Qual der Wahl von einem globalen Kaffeeröster: mit Milch oder ohne? Mit Caramell? Klein oder groß? Was macht es da für einen Unterschied, wenn es nun Menschen sind, die zur Auswahl stehen. Anfangs war das Sortiment groß, je später ein Spender einen Zettel auswählte, desto kleiner seine Möglichkeiten. Wie auf dem Wühltisch. Die Menschen gingen weg wie warme Semmel.

Ein dritter Laster stand an der Ampel, auch er in die Jahre gekommen, mit Plane ohne Aufschrift. Er kam den Schlachtern entgegen: Sein Ziel war ihr Herkunftsland. Vollbeladen mit Paketen zu Weihnachten. Gespendet für Kinder und Familien in sozialer Not. Die Kinder sollten sich freuen über barmherzige Gaben der Menschen aus Deutschland. Teilen möchte man hier und soziale Verantwortung übernehmen. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

Die Anzahl derer in sozialer Not steigt. Von Jahr zu Jahr. Nicht nur anderswo. Auch hier. Die Suppenküche, die Tafel, die eigens eingerichtete Kindersuppenküche – sie erleben regen Zulauf. An Armut kann man sich gewöhnen, auch die, die nur zuschauen. Applaudieren für die Arbeit der guten Taten hat einen festen Platz auf Seite drei der Zeitungen. Wo Suppenküchen sind, ist für alles gesorgt. Zum Jubiläum gibt es Spenden, zu Weihnachten Frohsinn. Wir helfen doch gern. Nur, dass die Helfer wegsterben, weil sie im zweitältesten Land der Welt auch nicht ewig leben. 

In diesem Jahr muss Weihnachten für die Armen in der Suppenküche bereits ausfallen. Geschenke übergeben ja, Essenausgabe nein. Es sind zu wenige ehrenamtliche Menschen gefunden, die bereit sind, die abendliche Mahlzeit auszugeben – und Zeit aufzubringen, mit den Armen am gleichen Tisch zu sitzen. So bleiben die Lichter dieses Jahr aus. Und die Koteletts ungebraten im Kühlhaus.

Es klopft an der Scheibe. Ein korpulenter Herr kann seine Wagentür nicht öffnen. Zu wenig Platz fürs Einsteigen.

2 Kommentare Füge deinen hinzu
    1. Literatur als öffentliche Schrift der Beobachtung, ja. Ungewohnt, weil auf den ersten Blick kein digitales Thema. Und doch steckt in der Betrachtung der Gegenwart auch unsere Zukunft – die ich durchaus im Digitalen sehe.

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