Wir sind in der Sensibilisierungsphase!

„Ältere Menschen in ihrer analogen Welt dürfen nicht abgehängt werden!“ „Die Jugendlichen schauen doch nur auf ihr Smartphone und nehmen am Leben gar nicht mehr teil.“ „Facebook ist böse.“ „Datenschutz ist das wichtigste!“ „Vorschläge der Jugend müssen priorisiert werden und sind hier im Ausschuss von uns Politikern zu beschließen!“

Sie wollen die Kontrolle behalten – und haben sie längst verloren. Sie sollen Zukunft gestalten, der sie aber längst meilenweit abgeschlagen hinterher hecheln. Ihr Altersdurchschnitt liegt zwischen 55 und 60. Längst ist ihnen bewusst, dass die Jüngeren ihnen eigentlich die digitale Welt erklären müssten. Längst sind sie aus dem Paradies der 80er Jahre vertrieben, als die Welt noch den Kalten Krieg kannte und die soziale Marktwirtschaft für Gemeinschaft sorgte und Computer etwas war für Spinnerte. Sie tun alles, um dieses bekannte analoge Leben noch ein klein wenig zu verlängern. Viele Verantwortliche in den Räten und Gremien stehen derzeit vor einem Epochenwandel.

Ähnlich unter Druck gefühlt haben sich wahrscheinlich zum letzten Mal ihre Vorfahren vor rund 100 Jahren: da war es die Elektrifizierung, die eine gesamte Gesellschaft aus den Angeln hob. Damals, als Strom auch nur einen An- und einen Ausschalter kannte. Kaum jemand dürfte einst erkannt haben, wie sehr elektrischer Strom die Welt verändern würde.

Nun steht wieder ein tektonisch bedeutsamer Kulturwandel an. Digitalisierung. Die kommunalen Entscheider sind gefragt, diesen Wandel zu gestalten. Wie kann das gelingen, wenn der Zug bereits volle Fahrt aufgenommen hat – nur nicht in der eigenen Stadt? Wie kann man glaubhaft vermitteln, man habe hier noch alles im Griff?

Viele Fragen, die sich da auftürmen. Unlängst saß ich auf der Zuschauertribüne in einer mittelgroßen Stadt und schaute zu, wie sich Kommunalpolitiker mit dem Thema Digitalisierung auseinandersetzten. In 26 Tagen leben wir im Jahr 2018. Seit Jahren ist das Thema Digitalisierung bekannt. Hier allerdings befasst man sich zunächst noch mit einer Idee für einen gesamtstädtischen Prozess. Bisher steht Digitales lediglich in Buzzwörtern auf dem Papier: Digitale Infrastruktur, Künstliche Intelligenz, Internet der Dinge, Handlungsfelder. Das gesamte Repertoire an üblichem Bullshit-Bingo ist versammelt. Eindrücklich zeigen die großen Wörter Wirkung, drücken die politischen Entscheider noch tiefer in ihre Sessel. Vorgetragen wird diese neue Welt von einem externen Berater, der gleich einem Rufer in der Wüste von Galaxien spricht, die niemand sonst im Raum je betreten hat.

Auf den Rängen im Zuschauerraum ist es mit Händen greifbar: Am liebsten wäre es ihnen da unten, wenn alles so bliebe, wie es ist – analog. Digitales kann gerne in der Zeitung stehen und man kann auch gerne drüber reden – aber Veränderung im eigenen Lebensbereich ist nicht das Ziel. So in etwa könnte ein jeder sein Leben gestalten, wenn man Ü50 ist und Privatmensch: sich entscheiden, Distanz zu nehmen von Fortschritt und Gestaltung und auch im Berufsleben so langsam an die Rente denken. Diese Generation wird sie wahrscheinlich noch erhalten. Für Menschen, die politische Verantwortung tragen und damit Entscheidungen treffen, die von weitreichender Relevanz sind für eine ganze Stadtgesellschaft inklusive für die nächste Generation ist diese Haltung des kommoden Einrichtens in der altbekannten analogen Welt jedoch Sprengstoff – der dann detoniert, wenn die fatalen Folgen dieser Fehlhaltung Wirkung zeigen aber die Verantwortlichen längst ihre Ruhegelder genießen und nicht mehr greifbar sind.

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Einige Highligts der Debatte:

Breitband. Bemängelt wird das Fehlen einer digitalen Infrastruktur. Moniert wird, Glasfaser sei künftig ebenbürtig mit Wasser, Strom und Gas. Man spricht von Daseinsvorsorge. Vergessen ist, dass sie selbst es sind, die sich seit Jahren um eben diese Glasfaser hätten kümmern sollen. Vergessen ist, dass sie niemals die Hand gehoben haben dafür, dass eine Stadt einen Anschluss an die Gigabit-Gesellschaft erhält. Vergessen ist in Mitte der Ratsperiode, dass sie bereits zur ihrem Amtsantritt keine Verantwortung für dieses Thema übernommen und diesen Umstand auch bis heute nicht korrigiert haben. Kritisieren sie das Fehlen von Glasfaser – kritisieren sie sich selbst.

Jugendbeirat. Ein Beirat soll gebildet werden, alle unter 30 dürfen jetzt mitmachen. (Es fallen hier hauptsächlich politisch aktive Jugendliche ein.) Es wird ein Personenkreis in den Fokus gerückt, den die Stadt bisher sträflich behandelt hat: „Die“ Jugend. Ihr bisheriges Dasein gestaltet durch die Stadt sah so aus: Der Computerschrott der letzten 20 Jahre, gespendet und zusammengetragen aus mühseliger Elternbereitschaft, verrottet in den Kellern der Schulen oder unter deren Dachboden. In Nutzung waren die Geräte selten bis nie. Flächendeckendes WLAN gibt es bis heute nicht, das Nutzen der Smartphones ist unter Todesstrafe in der Schule nicht erlaubt, in den Abiturreden wird Digitales verspottet, digitale Kompetenz im Lehrerzimmer wird schmerzlichst vermisst. Nun aber soll genau diese Gruppe es richten, der man in den kommunalen Ausschüssen bereits seit Jahren die digitale Ausbildung verwehrt hat. Ihre dennoch erlangten digitalen Fähigkeiten jedenfalls haben sich die Jugendlichen bestenfalls auf der Straße selbst organisiert. Zum Erlernen sogar von Programmierfähigkeit wurden sie in einzelnen Fällen in die Nachbarkommune chauffiert, dort gab es Kurse. Außerschulisch versteht sich.

Datenschutz. Keine Daten der Bürger dürfen verkauft werden! wird skandiert. Die Datenhoheit liegt längst schon nicht mehr bei den Kommunen. Die großen Anbieter Facebook, Amazon, Google – sie NUTZEN die Daten bereits. Kommunen können hier eigentlich nur noch damit antworten, ihre Daten als Open Data für die Nutzung der Zivilgesellschaft bereit zu stellen. Die Stadtspitze erklärte, sie habe „mal gegoogelt“. Die wichtigsten Passwörter der Nation. Die Bürger seien selbst Schuld, wenn sie so unbedarft damit umgingen. Und man solle auch alle Dienste in seinem Smartphone ausschalten, die eine Überwachung möglich machten, da müssten die Bürger selbst auf sich achten. Dass ein Smartphone eben seine Funktionalität aus genau diesen Diensten speist… Goldig, dieser Einwand.

Partizipation. Bürgerinnen und Bürger sollen befragt werden. Man kennt das in der besuchten Stadt bereits. Über die „Einmaligkeit“ ist man hier vor Ort bisher nicht herausgekommen, wenn es um so große Projekte geht. Ein Bildungsgipfel tagte genau einmal, so lässt sich vernehmen. Ein Digitalgipfel könnte ein ähnliches Schicksal erleiden.

Budget. Der Haushalt wird verabschiedet. Geld für diesen digitalen Prozess aber sucht der Interessierte vergeblich. Das notwendige Budget wird per Klinkenputzen eingesammelt, heißt es. Der wohl wichtigste Wandel in der Stadtgesellschaft wird damit auf Zuruf finanziert. Ein Weg in eine neue Epoche ist damit abhängig von feudalen Strukturen des Mäzenatentums oder der Spendierlaune weniger, die kaum demokratisch gewählt sind. Ideen aus dem letzten Jahrhundert.

Digitalisierung als Selbstzweck. Diesen Ansatz kann es gar nicht geben. Wir sprechen von Klimawandel und dem Umstand, dass unsere westliche Welt auf dem Rücken armer Länder konsumiert und lebt. Wir sehen uns einem demografischen Wandel gegenüber, in dem viele Menschen ohne Hilfe nicht überleben können – aber es sind zu wenige menschliche Helfer da. Wir sehen eine Umweltverschmutzung durch übermässige Mobilität, die unsere Umwelt zunehmend unbewohnbar macht. Digitales kann helfen, unsere Inkompetenz zu kompensieren und intelligent Lösungen schaffen.

Wie also will ein solches politische Gremium den Anschein erwecken, man handele? Mit der Antwort: Wir befinden uns in der Sensibilisierungsphase!

Offenbar hat man hier reichlich Zeit und Optimismus. Es gilt, diese Kommune im Blick zu behalten – als Anschauungsmaterial, wie Chancen verrinnen.

Am Abend in der gleichen Stadt gab es dann eine weitere Kostprobe, wie sehr eine alternde Gesellschaft am Nabel des Analogen hängt. Eine bekannte Fernsehmoderatorin gab ihre Kenntnisse zur Digitalisierung zum Besten: Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft und Medien.

In einem voll besetzten Raum mit rund 500 Zuhörern hätte man die Chance nutzen können, diesen epochalen Wandel zu beschreiben. In die Zukunft hinein zu transformieren, Antworten zu skizzieren. Mit relevanten Aspekten versehen – insbesondere vor einer Zuhörerschaft, die sich aus den Mitarbeitern einer Sparkasse zusammensetzte. Anlass genug, etwa auch zu thematisieren, wie sehr gerade das Bankgeschäft disruptiv attackiert wird: Blockchain, Bitcoins, Schließung von Filialen, alleine 2.000 in den letzten beiden Jahren bundesweit, Einsatz von KI mit Algorithmen, die eines besser können als Menschen: rechnen. Und damit das Kerngeschäft von Banken auf die Probe stellen.

Auf der Bühne entfachte sich stattdessen ein Feuerwerk von Naivität, bürgerlicher Gemütlichkeit „uns geht es doch so gut in Deutschland“ sowie ausgelassener Familienzentriertheit „meine beiden Kinder“. Gefragt, wie sich denn die Nutzung der Social Media auf die Informationsvermittlung auswirken werden, gab es als Antworten niedliche Anekdoten aus dem Redaktionsleben eines Fernsehen, wie sehr die Online-Kollegen doch belächelt werden mit ihrem „schneller und kürzer“. Und auch diese Antwort überzeugte kaum: „Ich selbst bin ja nicht bei Facebook“ – für eine Digitalexpertin eine heikle Aussage. Und auf Twitter ist sie auch nur mit einem Rumpf und lediglich einem Tweet. Aber Aussagen über Digitalisierung treffen und sich darüber aufregen, dass nicht alle Welt den Qualitätsjournalismus ihres Senders als Infoquelle nutzt, sondern auch das Netz.

Am Ende gab es den freundschaftlichen Hinweis, dass christliches Ehrenamt ganz schön sei. Und Kirche. Das war sicher ein Trost für alle diejenigen im Publikum, die künftig beten müssen, dass ihre Arbeitswelt noch einen Platz für sie bereit hält.

Ende gut…

Im Verlauf des gestrigen Tages fiel auch der Begriff „Technikfolgeabschätzung“, die man unbedingt brauche, um zu ermessen, was Digitalisierung mit sich bringe. – Ein Terminus aus den frühen Jahren der Wissenschaft um Gentechnik etc.

Heute müsste man vielmehr den Begriff „Zukunftsverweigerungsfolgeabschätzung“ einsetzen, um zu ermessen, welche Folgen das Wegducken einer alternden Entscheidergeneration für die nächste Generation nach sich ziehen wird. 

Gut, dass dieser Ausflug in eine digital nicht affine Kommune nur ein kleines Beispiel ist für die „German Angst“, die vielerorts bereits längst überwunden ist und die meisten Entscheider mit großer Lust seit langem auf den digitalen Zugwandel aufgesprungen sind.

Ein Segen, dass das hier eine Ausnahme ist – sonst würde ich mir ernsthaft Sorgen machen.

2 Kommentare Füge deinen hinzu
  1. Wenn wir auf Fortschrittsangst mit Selbstgerechtigkeit reagieren, fühlen wir uns schlau und gut, leisten aber keinen Beitrag zur Veränderung des Bestehenden.

    1. Danke für diesen Leitsatz aus der Bertelsmann Stiftung, deren Führungskraft aus dem Bereich Kommunen und Regionen Sie sind und die den Beratungsprozess vor Ort begleitet.

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