Wir sind lernfähig! Und wie!

Update zum Onlinezugang zur Stadt (Bürgerportal) vom 8. Juni 2020 siehe rot im Text. 

 

Wir sind lernfähig! Und wie! Vielleicht geht es Ihnen genau so wie mir: Ich fühle mich völlig fremd und neu in meiner eigenen Stadt, so als käme ich aus einer anderen Welt. Seit Wochen bewege ich mich nicht mehr in der gewohnt unbeschwerten Art in der Öffentlichkeit. Mein bisher fest gespeichertes Wissen über das „normale Verhalten“ eines Bundesbürgers im Alltag sowie meine Sozialisation in dieser offene Gesellschaft scheint wie weggeblasen zu sein. Corona hat meinen Alltag nachhaltig verändert. Jeden Tag bin ich gefordert, hinzuzulernen. Wie alle anderen auch. Wir orientieren uns neu.

Ich fühle mich dabei jedoch nicht wie ein Befehlsempfänger staatlicher oder obriger Anweisungen. Ich fühle mich verantwortlich für mich und meine Mitmenschen. Das kann man aufgeklärt nennen, gemeinwohlorientiert, vielleicht auch christlich. Begriffe gibt es zahlreich, natürlich auch viele negative. Jedenfalls scheine ich nicht alleine zu sein, mit meiner Lernfähigkeit, um mich an völlig ungebräuchliche Lebensweisen zu gewöhnen. Eigentlich gewöhne ich mich nicht nur an sie: Ich passe mich ihnen an. Und frage gleichzeitig nach digitalen Antworten, die mir dabei helfen könnten. So wie viele Andere in meiner Umgebung auch.

 

Ein paar Kostproben: 

 

 

Lesefähigkeit ist klar von Vorteil

Zunächst bin ich dankbar, dass ich lesen kann. Vor jedem Eintritt in ein Geschäft, gilt es, die langen Vorschriften und Verhaltenshinweise zu lesen. Die fallen in jedem Geschäft anders aus, aber eines zählt überall: Maskenpflicht! Wer keine trägt, muss draußen bleiben. Das galt bisher nur für Hunde. Beim Schuhkauf werde ich aufgefordert, zunächst einen Chip in die Hand zu nehmen und während des Geschäftsbesuchs bei mir zu behalten – ist keiner da, muss ich warten, bis ein anderer Kunde den Laden verlassen hat. Der Chip ist Hinweis auf freien Platz zum Marktzugang: Maximal 15 Kunden dürfen sich gleichzeitig hier aufhalten. Ergattere ich einen solchen reduzierten Chip, trage ich das frisch desinfizierte Ding als stillschweigend vereinbarte Zutrittsberechtigung durch den Laden, bis ich wieder hinaus gehe. Bei der Rückgabe, also dem Einwerfen des Chips in den bereit gestellten Karton, frage ich mich schnell noch: muss jetzt ich das Ding desinfizieren – oder ist dafür einer eingestellt?

Beim Krimskrams-Kauf ist es ein Einkaufskorb, den ich zum legitimen Eintritt benötige. Ohne Korb kein Shopping. Beim Klamottenladen hängt eine Auswahl an Stoffshoppingbags vor dem Eingang. Nur mit dem in der Hand darf ich rein. Mathematik beherrscht den Alltag. Ladengröße gemessen an Menschen bildet die Grundlage für den Zugang. Übersetzt heißt das: je kleiner der Laden, desto weniger Menschen haben Zugang. Wir halten uns an die Abstandsregel. Ein Meterfünfzig beherrscht das Denken.

 

Nun bin ich allerdings nicht allein aus Shoppinglust in den Geschäften unterwegs. Sondern vor allem suche ich nach Hinweisen auf digitale Antworten auf die Krise. Wo sind Hinweise auf hybride Geschäftsmodelle, also die Verschmelzung von digital und analog? Im örtlichen Einzelhandel finde ich keine. Bei einer zweiten Welle von Corona würde es genau so ausfallen: alles dicht und der Einkauf ist hinfällig. Natürlich ist uns allen auch klar geworden: Wir brauchen diesen überbordenden Konsum überhaupt nicht mehr. (Jedenfalls ist ein Großteil der Bevölkerung satt mit Gegenständen ausgerüstet, während andere abgehängt sind. Das aber ist eine andere Diskussion.) Allein beim Geld wird es digital: Hinweise, dass EC-Karten sehr gerne gewünscht sind, finden sich verstärkt. Geld stinkt nicht, aber an ihm haften Keime. Digital ist da sicherer, hier besonders NFC.

Wer sich nachhaltig darauf einstellen möchte, dass Menschen vielleicht auch künftig nicht mehr physisch in ein Geschäft kommen (können), sollte sich nun spätestens jetzt überlegen, wie das eigene Geschäftsmodell digital zu betreiben wäre. Dabei muss es nicht unbedingt eine zweite Welle Corona sein. Es reicht schon ein nächster heißer Sommer mit mehreren Tagen über 40 Grad. Es reichte schon eine längere Dürreperiode, die das Einkaufen verleiden. Es reicht auch schon die Diskussion der veränderten Mobilität und die Einschränkungen durch eine alternde Bevölkerung, die eben nicht mehr in der Innenstadt unterwegs sein kann. Alles Faktoren, die vorhersehbar sind und nach digitalen Antworten rufen. Die Notwendigkeit, sich im Einzelhandel digital aufzustellen, dürfte eine der größten Lehren sein. Und lange ist das schon eine Binsenweisheit.

 

(Kein) Zutritt zur Verwaltung

Nachdem das Rathaus wochenlang geschlossen war, ist nun eine Interimslösung geschaffen. Das Betreten des Rathauses ist nur mit Termin möglich. Kontaktaufnahme erfolgt über Mail oder per Telefon. Vor dem Eingang wartet ein Partyzelt mit davor postierten Servicekräften, die erst abfragen, ob ein berechtigtes Interesse für den Zugang zum Rathaus vorliegt. Hände desinfizieren nicht vergessen! Und auch hier gilt: Maskenpflicht! Maskiert ins Rathaus zu marschieren, noch besser war es in der Sparkasse (!), hat schon Überwindung gekostet. Wann in der Geschichte der Bundesrepublik durfte man schon mal maskiert in eine Behörde und den Ordnungskräften unbekannt gegenüber stehen?

 

 

Leider erhielt ich gerade in diesen Tagen Post vom Bürgerportal der Stadt: Ich habe leider das Serviceportal der Stadt in den letzten Monaten zu wenig genutzt. Man werde also meinen Account in den nächsten Tagen löschen. Ich frage mich, warum löschen die mich? Der normale Kontakt zwischen Stadtverwaltung und Bürger liegt bei 1,5 mal im Jahr. Die Stadt sollte sich doch eher freuen, wenn ich also wenig mit ihr zu schaffen habe. Auf die Antwort, warum ich also nicht mehr geführt werde, bin ich sehr gespannt.

Update: Antwort vom Bürgerportal-Team:

„bei der Umstellung auf eine neue Software-Version unseres Portals hat unser Dienstleister, welcher die Software managt, leider einen Fehler in den Einstellungen vorgenommen.

Dadurch kam es zu einer nicht vorgesehenen Massenversendung der Löschankündigung, obwohl wir diese weder gewollt noch gefordert hatten.
Die Löschfunktion wurde inzwischen abgeschaltet, Ihr Konto wird also nicht automatisch gelöscht und es gibt auch keine Frist von 2 Jahren Inaktivität mehr, nach dem ein Konto gelöscht werden sollte.
 
Leider habe auch ich erst nach der Umstellung und dem Neustart des Systems davon Kenntnis erhalten, so konnte ich die E-Mail Versendung leider nicht mehr stoppen. Sehen Sie daher die E-Mail mit der Löschankündigung als gegenstandslos an und löschen Sie diese einfach. Ich bitte die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen und verbleibe Mit freundlichen Grüßen…“

Auch fragte ich die Stadt Gütersloh, ob sie von der Einlassung im Epidemiegesetz NRW nun häufiger Gebrauch machen werde. Das Epidemie-Gesetz NRW sieht noch eine weitere Änderung vor, die sich kommunal abbilden kann:

„§ 25a

Vereinfachung elektronischer Verwaltungsverfahren

 

(1) Abweichend von § 3a VwVfG NRW kann die zuständige Behörde weitere Formen der elektronischen Kommunikation zulassen, um eine durch Rechtsvorschrift des Landes angeordnete Schriftform zu ersetzen. Es liegt in ihrem Ermessen, ob die Schriftform zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen ist. Ein Anspruch auf die Einräumung der Möglichkeit nach Satz 1 besteht nicht.

 

(2) Mit Einwilligung des Beteiligten können Verwaltungsakte bekanntgegeben werden, indem sie dem Beteiligten oder einem von ihm benannten Dritten elektronisch übermittelt oder zum Datenabruf durch Datenfernübertragung bereitgestellt werden. Der Verwaltungsakt gilt am dritten Tag, nachdem er oder die elektronische Benachrichtigung über die Bereitstellung des Verwaltungsakts zum Abruf an die empfangs- oder abrufberechtigte Person abgesendet wurde, als bekanntgegeben. Satz 2 gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt oder die elektronische Benachrichtigung nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes oder der elektronischen Benachrichtigung nachzuweisen. Lässt sich der Zugang des Verwaltungsaktes nicht nachweisen, so gilt er in dem Zeitpunkt als bekanntgegeben, in dem der Verwaltungsakt der empfangs- oder abrufberechtigten Person tatsächlich zugegangen ist.“

Die Antwort fiel verblüffend aus:

„…. vielen Dank für den Hinweis auf die Vereinfachungsvorschrift. Wir prüfen derzeit den Bedarf und die Anwendungsmöglichkeiten in unserem Hause. Das Thema elektronische Kommunikation steht bei der Stadt Gütersloh – unabhängig von der bestehenden Krise – weit oben auf der Agenda. Insofern freuen wir uns über jeden Impuls, der von außen kommt und hilft, die Kommunikation mit den Bürgern zu vereinfachen.“

Ja, ich hätte da schon Ideen. Aber das E-Government-Gesetz ist doch schon ein paar Tage alt, da stehen doch längst zahlreiche Möglichkeiten auf dem Zettel.

 

Im Demenz-Pflege-Heim

Hier schlägt Corona besonders hart zu. Der Kontakt mit Pflegebedürftigen lebt von der Berührung, der Nähe und dem direkten Beisammensein. Andere Formen der distanzierteren Kommunikation stoßen schnell an ihre Grenzen. Siehe meine Einlassungen zur Videotelefonie dazu. Jeder Besuch fällt also ein bisschen in die Kategorie „Kampf und Erlaubnis“. Wir jedenfalls müssen uns nun zum Besuch telefonisch anmelden. Jeder Angehörige erhält maximal 30 Minuten Besuchszeit.

Und die Vorbereitungs- und Nachbereitungszeit für die Besuche haben es in sich: Mundschutz ist Pflicht! (Die leichteste Übung bisher.) Handdesinfektion. Zettel ausfüllen, mit Namen, welcher Bewohner wird besucht, Uhrzeit der Anwesenheit, Abruf der eigenen Vitaldaten: hatten Sie Kontakt mit möglicherweise an Corona Infizierten? Haben Sie Husten oder Fieber?, Unterschrift und am liebsten alles mit dem eigens mitgebrachten Kugelschreiber ausgefüllt. Dann nochmals Hände desinfizieren. Sodann wird der zu Pflegende an einen eigens vorgesehenen Platz gefahren. Draußen mit der Beschriftung „Bewohner“, drinnen verschwindend hinter Plexiglas und rot-weißem Flatterband. Und natürlich musste bisher der Besucher noch die Schutzkleidung anlegen.

Derartige Verkleidung führt in einem Demenzwohnheim zu besonderer Irritation. Schon ohne Maske werden die Besucher nicht oder kaum mehr erkannt. Selbstverständlich muss man da für einen kurzen Augenblick die Maske lüften und fragen wie bei Kindern: „Wer bin ich?“

Nicht alle Angehörigen finden diese Umstände nachvollziehbar, ihre Sorge um den psychischen Zustand ihrer Angehörigen bei dieser Isolation ist größer als die Sorge um Infektion. Kein Einzelfall offenbar. Gerade hat das Land NRW eine Dialogstelle eingerichtet: Sie greift ein, wenn es Streit gibt zwischen Heimen und Angehörigen, die ihre Schützlinge etwa in der Pflege häufiger und direkter sehen wollen, als das derzeit möglich ist.

Ich wünsche mir mehr digitale Hilfskräfte im Heim. Über Avatare, Roboter und smarte Technik müssen wir jetzt verstärkt ins Gespräch kommen, u.a. auch deshalb, weil die Pflegedokumentation immer noch nicht online funktioniert. Auch, weil die Formulare wie Rezepte, Verordnungen, Überweisungen – und ja, auch Arztbesuche immer noch nicht digital möglich sind. Das ist krank! Mehr dazu schreibe ich in meinem aktuellen Buch Als die Demenz bei uns einzog und ich mir einen Roboter wünschte“. 

 

Zutritt zu Ärzten

Derzeit ist der physische Zutritt zu den Arztpraxen zwar wieder erlaubt. Und gewünscht. Aber neue Hürden hält auch das bereit. Vor einer Augenarztpraxis in der Innenstadt durfte ich folgendem Szenario beiwohnen: Vor dem Treppenhaus und dem Zugang zur Praxis stand eine Art Thekentisch, schön drappiert in appetitlichem Weiß. Daneben postiert eine männliche Servicekraft mit einem Walki-Talkie (haha, das gibt es noch!) in der Hand. Er bildete das Nadelöhr des Einlasses. Erst, wenn aus der Praxis oben die Aufforderung kam „der Nächste bitte!“, sprach er einen der Wartenden draußen an, mit dem Hinweis, jetzt dürfe man in die Praxis vorrücken. Dies als eine Vorsichtsmaßnahme, weil das Treppenhaus auch zu privaten Wohnungen führte und unnötige Warterei im Treppenhaus zu vermeiden war. Alles standen brav an, keiner murrte.

Wen überrascht es jetzt noch, wenn ich auch an dieser Stelle frage: Wann wird eine digitale Sprechstunde flächendeckend möglich und zum Standard?

Wir warten darauf. Bis dahin entstehen offenbar jetzt in der Corona-Zeit neue Jobs, die da heißen: echte menschliche Türsteher an Arztpraxen, an der Post, bei der Bank, vor dem Rathaus. Auch das könnten Roboter.

 

Friseur 

Herrlich – haben Sie schon mal jemanden vom Friseur abholen wollen – und ihn nicht erkannt, weil die Haare gerade noch ganz nass und vors Gesicht gekämmt waren? Oder weil die Lockenwickler noch drin hingen, in der Haarpracht? Oder ganz einfach, weil die neue Frisur dann doch so fremd aussah? Dieser Tage ist das Abholen beim Friseur noch eine größere Herausforderung als noch in unserem alten Leben. Jetzt kommt obendrein die Maske hinzu. Drei Richtige zu finden ist schwer: Den, der frisiert wird. Den Friseur selbst. Den Abholer. Memory von Gesichtsmasken. Ein besonderer Spaß. Und nein, hier erhoffe ich mir keine digitale Unterstützung. Höchstens die Tracking-App: die Person hinten links ist die richtige.

 

 

 

 

Meine kleine Tour durch die Welt der Verhaltensänderung und die Suche nach digitalen Spuren ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem facettenreichen Kaleidoskop der veränderten Alltagsbedingungen. Es liegen viele neue Herausforderung vor uns. Mich treibt die Frage um, wenn wir so lernfähig sind, wenn Krisen vor allem Veränderung befeuern, was hält uns auf, das auch gemeinsam mit der dringenden Digitalisierung zu denken, vernetzt mit verändertem Verhalten gegen den Klimawandel, der die nächste Krise schon mitbringt, für den Zusammenhalt in der Gesellschaft?

 

Es gibt Pessimisten, die sagen, „alles zurück auf vorher“ wird das Ergebnis sein. Ich gehöre nicht dazu. Ich glaube, wir haben erlebt und erfahren, was geht – und wie. Veränderung gelingt gerade jetzt sichtbar. Vielleicht müssen wir besonders in den Kommunen auf Spurensuche gehen. Hier zeigen sich die direkten Notwendigkeiten der Anpassung an Veränderung, die Lücken sind damit bekannt. Und gemeinsam können wir die Liste vervollständigen – und lernen. Denn wir lernen offenbar im laufenden Alltag der Veränderung am besten! Und wie!

 

 

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