Besuch im Impfzentrum

Nach meinem Einsatz als „Buchungsfreak“ für Impftermine meiner Familienmitglieder über 80 kam nun der Praxischeck vor Ort. In der letzten Woche begleitete ich meine Mutter zum Impfen.

Hier meine Erfahrungen, natürlich digital getränkt. Ich, die ich #WirVsVirus und #UpdateDeutschland dabei im Kopf habe: Sind das wieder alles nur Leuchttürme, die ausgeknippst werden, sobald das mediale Interesse verflacht? Aber nicht in der Lage sind, eine funktionierende digitale Infrastruktur zu etablieren?

Geimpft wird auch am Wochenende. Wir fahren über eine autoleere Zufahrtsstraße in Richtung Impfzentrum. Meine Mutter ist topfit und lebt autonom zuhause, ein mobiles Impfteam muss daher nicht aktiv werden.

Fotos vom und im Impfzentrum sind leider nicht erlaubt. Vertrauen Sie daher meinen Augen: Das Zentrum ist abgeschirmt, mit einem Schutzwall an der Straße gesichert, ringsherum ein zweimeterhoher Zaun, alles videoüberwacht, darauf weist ein großes Schild hin. Ich winke dem unbekannten Überwacher in einer der Kameras zu.

Direkt an der Zufahrt wacht ein Posten mit Schranke als eindrucksvolles Herrschaftszeichen. Hier wird das erste Mal überprüft, ob man überhaupt hierher hat abbiegen dürfen. Benötigt wird dazu die schriftliche ausgedruckte Bestätigung des Impftermins – auf Papier. Mit dem QR-Code kann man nichts anfangen. Gut, dass ich den Zettel ausgedruckt habe. Der freundliche Mann nickt und gibt die Schranke mit einem Sensor frei zur Durchfahrt.

„Bitte fahren Sie dort vorne rechts zu den Kollegen ins Zelt, da geht es weiter.“ 100 Meter weiter halten wir in einem Bundeswehrzelt, das wie eine Art Tunnel funktioniert: Hier wird meine Mutter zum ersten Mal selbst etwas gefragt, bisher war sie nur stille Betrachterin. Ihr Personalausweis wird erbeten. Ihre Daten werden nun überprüft: mit einer ausgedruckten Papierliste, die ein Helfer hin- und herblättert, bis er meine Mutter mit ihrer Ausweisnummer gefunden hat. Mit Stift und Lineal wird sie für heute aus der Terminliste gestrichen. Ich selbst erhalte einen Zettel mit Rubriken für meine Personalien als Begleiterin: Name, Anschrift, um wieviel Uhr angekommen, wann später ausgecheckt. Der Zettel muss ausgefüllt sein, bis wir das Zentrum verlassen. Gut, dass ich einen Kugelschreiber eingesteckt habe.

Wir parken, das ist frei, nicht orchestriert. Im Eingangsbereich, der scharf getrennt ist vom Ausgang, erwarten uns Betonpoller, die einen möglichen Anschlag mittels LKW oder PKW verhindern sollen. Wie beruhigend. Impfen ist also in mehrfacher Hinsicht nicht ohne Risiko.

Im gläsernen Eingangsbereich des ehemaligen Nafi-Supermarktes, ein Überbleibsel der britischen Streitkräfte, die unsere Stadt Jahre zuvor mit Marschbefehl gen Heimat verlassen haben, empfängt uns eine komplett in Schutzkleidung eingehüllte junge Frau und richtet eine Art Pistole auf unsere Stirnen. Eine grüne Uniform der Briten ist jetzt einer weißen der Pandemie gewichen. Einen Moment erwarte ich den Befehl „Hände hoch“ und möchte mit „Nicht schießen“ kommentieren. Es ist eine Fieberpistole, die unsere Temperatur misst. Meine Temperatur dürfte gerade durch den Schreck in die Höhe gerast sein. Wir müssen nun noch die Hände weiter unten lassen aber gründlich desinfizieren und dürfen anschließend eintreten in den Tempel der zu erhaltenden Gesundheit.

Im gesamten Gebäude ist es hilfreich, wenn man lesen kann. Rasche Lesekompetenz ist geboten, denn die Wände und auch die Böden sind gespickt mit Hinweisen und Verhaltensregeln, die schnell erfasst werden müssen, denn das Tempo des Durchschleusens ist enorm.

Meine Mutter ist für einen Augenblick irritiert, wie es weitergeht. Dann erkennen wir das Muster, welches Verhalten von uns erwartet wird: Wir durchlaufen eine Art Absperrung, die man vom Flughafenanstellen vor den Eincheck-Schaltern kennt, einmal dem nun doch roten Absperrband nach links folgen, dann um die Kurve die gleiche Strecke wieder nach rechts, dann nochmals links, es ist überhaupt nicht voll, wir erhöhen das Tempo und kommen vor einer nächsten Mitarbeiterin vom Deutschen Roten Kreuz zum Stehen. Natürlich mit Maske. Im gesamten Areal herrscht Maskenpflicht versteht sich. Sie bittet uns, nochmal die Hände zu desinfizieren, sie drückt eine Taste an einem Automaten. Der spuckt ein Ticket für uns aus wie auf einem Parkplatz. Auf Papier.

Wir sind jetzt nicht mehr Mutter und Tochter und Impfanwärter, sondern Nr. B 371, mit dem Vermerk, dass wir für BioNTech gebucht sind. Das ist wichtig, denn die Impfstraße ist danach ausgelegt, wer was an Vakzin bekommt. Nach ein paar Schritten erhalten wir an einem Schalterhäuschen wie bei der Passkontrolle an einer Grenze ein Kompendium an Unterlagen (in Papier- und Pappform), werden nochmals überprüft, ob wir auch wirklich angemeldet sind. Alles hat seine Richtigkeit. Wir sind nun eingeladen, im Wartebereich Platz zu nehmen mit der Aufforderung, den digitalen Monitor im Blick zu behalten, der unsere Nummer aufrufen wird.

Das gesamte Ambiente ist gleißend weiß, die aufgestellten Wände innerhalb des alten Supermarktes strahlen weiß, die freundlichen Helfer strahlen in weiß, das Orange ihrer Dienstkutte sticht heraus wie fehl am Platz. Der Boden ist so sauber gewischt in hellem Marmor, dass er glänzt und seine Reinheit unter Beweis stellt. Die Bestuhlung ist reinweiß. Ich verspüre ununterbrochen den Drang bei so viel Reinheit, meine Schuhe auszuziehen, um nichts zu verunreinigen, aus Solidarität mit dem Reinigungspersonal.

Ein digitaler Monitor an den Wänden zeigt uns an, wann wir mit B 371 an der Reihe sind. Genau jetzt nämlich, wir haben keine 60 Sekunden gewartet, das Heranziehen der Stühle aus ihren penibel mit Abstand bemessenen Sitznischen war also überflüssig. Auch den Fragebogen konnten wir nicht passend ausfüllen. „Das dürfen Sie auch in der Kabine beim Aufklärungsgespräch erledigen“, werden wir höflichst informiert. Bis hierher sind wir umsorgt aus einer Wolke von ausgesuchter Höflichkeit, Freundlichkeit, man kann es als überbordende Nächstenliebe interpretieren. Alle Mitarbeitenden in den weißen Hallen sind zuvorkommend, lesen förmlich die Bedürfnisse und Fragen von den Augen ab. Kaum bildet sich eine Frage im Hirn, ist noch unausgesprochen und schon steht jemand an der Seite und schaut auf unseren kleinen Parkzettel B 371 – pickt uns sozusagen gleich auf und begleitet meine Mutter und mich in den nächsten freigewordenen Kabinenbereich mit einer wartenden Arztperson. Über der Kabine leuchtet ein grünes Lämpchen, eine Nummer zeigt an, in welchem Raum in der Reihe wir uns befinden und nebenan ist die Tür zu, darüber flimmert es rot. Wir sind also nicht alleine, aber man sieht außer das Personal niemand Wartenden sonst.

Jetzt schlägt die Stunde der Formulare. In einer schönen Mappe aus Papier der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe finden sich viele Fragen.

Ein Fragebogen zur Anamnese von Vorerkrankungen, wie „Haben Sie aktuell Fieber?“, „allergische Reaktionen“, „Immunschwäche vorhanden?“, „liegt Blutgerinnungsstörung vor?“, „sind Sie schwanger?“, „sind Sie in den letzten 14 Tagen geimpft worden?“. Alle Antworten ankreuzbar. Ja, Nein. Die Einwilligungserklärung zur Impfung wird unterzeichnet. „Haben Sie sonst noch Fragen?“ – Ja, wer kein Impfbuch hat, die Generationen aus den 30er-Jahren brauchten das bisher eher nicht, bekommt ein eigenes Impfbuch erstellt. Es erhellt den Raum mit seinem gelb und zieht so die Blicke als einzig Buntes im Raum auf sich. Wie eine erste Narzisse im abtauenden Schnee liegt das wichtige Dokument hinter Plexiglas und wartet mit einem Stempel in Dunkelblau versehen auf die Blumenübergabe an meine Mutter. Wir haben damit also ein weiteres Dokument in der Hand. Einen Impfpass aus Papier.

Das gleichzeitig ausgefüllte Papier (!) einer Impfbescheinigung trägt nun die ersten vier Unterschriften einer Ärztin von insgesamt acht notwendigen Signaturen, die aber noch folgen müssen.

Aus der Kabine raus geht es im Eiltempo in die nächste gerade frei gewordene Impfkabine. Hier lagert das Heiligtum: der Impfstoff. Mehrere Spritzen sind bereits aufgezogen. Die Impfstraße teilt sich hier in BioNTech und Astra Zeneca. Wir biegen ab in Kabine Nr. 3. Meine Mutter möge bitte ihren Oberarm frei machen. „Rechts? Links? – was ist Ihnen lieber?“ wird gefragt. Sie sitzt kaum auf der Pritsche (die ist zur Abwechselung mal schwarz), ich drehe mich um und verstaue ihren Mantel, da ist alles schon gelaufen. Ich hatte mich gefreut, den Pieks live zu erleben, nachdem ich nun schon 1.000 mal dem Impfen im Fernsehen virtuell beigewohnt habe. Aber nix da. Die Impfgeberin impft schnell und routiniert, dass meine Mutter laut fragt: „Haben Sie denn überhaupt was in mich reingespritzt?“ „Ja, wir sind hier Profis.“ Und damit das so bleibt und wir nicht zu bummeln anfangen und die Fließgeschwindigkeit der Abläufe unnötig blockieren, sind wir auch schon wieder draußen. Die Tür hinter uns schließt sich mit einem freundlichen „Alles Gute für Sie, bis zur nächsten Impfung in vier Wochen“.

Wir stehen ein nächstes Mal auf einem Flurabschnitt, etwas dunklerweiß, weil ohne Fenster und weniger beleuchtet, aber wir nutzen diesen Moment und schauen uns an. Die letzten Minuten vergingen wie im Flug. „Jetzt bin ich geimpft!“, kommentiert meine Mutter mit dem Ansinnen sich dessen erstmal bewusst zu werden – und schaut mich fragend an, als ob nun die Welt irgendwie wieder im Lot sein müsste. Wann ich selbst geimpft werde, werden sicher die nächsten Jahre entscheiden.

Wir dürfen hier nicht lange stehen bleiben, wir blockieren den Flur. Höflich und freundlichst werden wir auf Distanz zu einem nächsten Automaten begleitet, bitte aber zunächst nochmal die Hände desinfizieren. Wir ziehen jetzt ein weiteres „Parkticket“ – auf Papier. Mit einer aufgestanzten Uhrzeit: 15:01 Uhr.

Wir schauen uns fragend an, was jetzt zu tun wäre. Lesen ist erforderlich. Es dauert nur eine Millisekunde, dann steht ein Adjudant neben uns: „Wenn diese Uhrzeit auf Ihrem Ticket erreicht ist, dann dürfen Sie an den letzten Schalter zum Auschecken gehen. So lange warten Sie bitte hier.“ Und zeigt auf einen nächsten Wartebereich, natürlich in weiß, mit Stühlen, auch in weiß und Wänden natürlich weiß. „Wo ist hier denn eine maßgebende Uhr?“, frage ich verzweifelt und versuche einen Bruch in der Orga-Suppe zu finden. Den aber gibt es nicht. Denn an den Wänden hängen wiederum zwei Monitore mit der digitalen (!! ich freu mich) Anzeige der Uhrzeit. Und auf dem zweiten Teil des Displays spielt eine Endlosinformation, die über mögliche Symptome informiert, welche nach der Impfung auftauchen können. Ein freundlicher Arzt (diesmal in grün) informiert in einem Werbe-Info-Film, der aber ohne Ton läuft, dafür aber mit Untertiteln in riesigen Lettern, dass eine geimpfte Person immer noch ansteckend sein kann – für andere. Und der Schutz tritt erst eine Woche nach der zweiten Impfung ein. Wieder ist Lesekompetenz von Vorteil, die Bilder wechseln schnell.

Meine Mutter ist immer noch fröhlich erleichtert. „Was passiert hier wohl, wenn mir jetzt nach dem Impfen schlecht wird und ich zusammenbreche?“ Sie fragt das eher organisatorisch als dass ihr schlecht wäre. Sie ist putzmunter. Aber ich nehme ihre Anregung zum Anlass und frage: „Möchtest du das vielleicht testen? Dann fall jetzt vom Stuhl. Wir werden sehen, was passiert.“ Entsetzt über meinen Forschergeist schüttelt sie den Kopf. Das Hilfspersonal jedenfalls steht keine zehn Meter entfernt, ich bin sicher, sie als Ersthelfer wissen, wie man hilft.

Die digitale Uhr rückt vor auf 15:01. Wir dürfen nun vorrücken zu einem nächsten letzten Schalterhäuschen. Wir sollen uns bitte hinsetzen. Auf weiße Stühle. Die Dame ist in weiß gekleidet, auf ihrem Shirt prangt ein Schild „Kreis. Weltgewandt und bodenständig“. Dann reichen wir ihr alle unsere Unterlagen, die wir in der Papierkladde gesammelt haben, also die gelbe Narzisse und alle Unterschriften der einzelnen Stationen. Jetzt sind es sieben Signaturen, die letzte wird die der Sachbearbeiterin des Kreises sein, die freundlich vor uns sitzt.

Sie nimmt den Papierwust entgegen, schaut nach der Richtigkeit, dreht die Blätter hin und her – und zählt die Unterschriften. Dann erhebt sie sich und bedient den Kopierer hinter sich. Als sie zurückkehrt, frage ich: „Sie haben die Unterlagen doch jetzt sicher gescannt, oder?“ „Nein“, lautet ihre sehr freundliche Antwort. „Ich habe die kopiert auf Papier.“ Ich muss schlucken. Sie bemerkt mein Fragezeichen im Gesicht trotz Maske. „Und wenn Sie zur zweiten Impfung wiederkommen, dann bekommen Sie das ganze Paket nochmal in einer zweiten Ausführung ausgehändigt – und auch das werden wir auf Papier kopieren. Ihre Papierunterlagen von heute bringen Sie dann bitte vollständig wieder mit.“ Ich bin zu erschrocken um nachzufragen.

Morgens also liefern LKWs den notwendigen Impfstoff. Abends verlassen LKWs das Impfzentrum voll beladen mit tonnenweise Papier und Dokumenten. Wo gelangen die dann hin? Wer locht die Papiere und wer ordnet die in welche Ordner ein – und wo werden die gelagert….und wie kann man die bei tausenden Impflingen pro Tag überhaupt so schnell wiederfinden?

Mittlerweile bin ich ganz sprachlos. Mit ausgesuchter Freundlichkeit werden wir entlassen, wandern die letzten Meter an Flur entlang, desinfizieren uns nochmals die Hände. Lesen brav alle Informationen und Hinweisschilder und sind ganz froh, dass wir lesen können. In den Händen halten wir unsere papierenen Dokumente. Ich frage mich, ob hier Google auch mit WLAN funktioniert im dem Fall einer notwendigen Übersetzung in eine andere Sprache als deutsch.

Augenblicke später treten wir durch die Schleuse ins Freie. Steigen ins Auto und fahren rechts an einer fehlenden Schranke zurück ins Leben. Meine Mutter frisch geimpft. Früher begleitete sie mich zur Schluckimpfung. Heute fahre ich sie zur Pandemiebekämpfung. Im behördlichen Handwerk hat sich seither nicht viel geändert. Nur, dass mehr als 50 Jahre Zeit verstrichen sind. Ich verlasse das Impfzentrum mit vielen Fragen, warum so viel Papier gebraucht wird. Und wann der Impfprozess digital wird. Weil ich ja schon auch an den digitalen Impfpass denke… für die Zeit danach….

Und mal sehen, was die viel gepriesenen Hackathons wie oben bezeichnet alles so ausspucken werden, das dann als Leuchtturm nur vernebelt, dass alles so geblieben ist wie immer schon: auf Papier.

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