Pflege nimmt einen stetig wachsenden Raum unserer Wahrnehmung ein. Jeden Tag findet sich etwas dazu in den Medien. Gut so. Wir sind die zweitälteste Gesellschaft der Welt im Ranking nach Japan. Mittlerweile kennt jeder die Herausforderungen „Pflege“ aus eigener Erfahrung oder erlebt sie im nahen Verwandten- und Bekanntenkreis mit.
Ich bin seit acht Jahren in der Pflege meiner Angehörigen unterwegs. Demenz. Pflegegrad 4. Darüber schreibe ich in meinem neuen Buch, das gerade auf seine Veröffentlichung wartet:
In diesem jahrelangen Wirken sind mir viele Handlungsfelder begegnet, in denen künftig Digitales das Zepter übernehmen wird: angefangen bei digitaler Dokumentation von Pflegeleistungen anstatt handschriftlicher Mandalas der Pflegekräfte, das mitdenkende Zuhause mit Gesichtserkennung und Interaktivität der Kommunikation bis hin zum Einsatz von Robotern in der Pflege und automatischen Waschanlagen in Heimen.
Hat man sich als Gesellschaft einmal auf einen solchen Weg eingelassen, entstehen Pfade der Folgewirkungen, die kaum wieder verlassen werden können. Das gilt insbesondre für die Frage des „neuen Alterns“: Demenz als eine neue Volkskrankheit ist Sand im Getriebe einer Gesellschaft, die sich Optimierung auf die Fahnen geschrieben hat. Der Mensch mit Demenz ist ein Fehler im System. Vergessen, Verfall, geistlos, kostenintensiv und zeitbindend – weg damit, niemand will das für sich. Alt werden wollen alle, alt sein will niemand. Es hindert den Menschen in seiner Selbstoptimierung weiter zum Menschen 2.0 aufzusteigen. Einer, der bestmöglich funktioniert.
Neuere Entdeckungen und Innovationen aus der Bio-, Neuro- und Informationsentwicklung sind schon jetzt in der Lage, unsere Grundannahmen bezogen auf Pflege und Altern auf den Kopf zu stellen. Das Menschenbild wird neu geprägt.
Trends wie Selbstoptimierung durch Überwachung der Vitalwerte und auch Verbesserungen des Körpers durch Prothesen und Implantate, die sogar die Denkleistung des Menschen veredeln wollen, klopfen an die Tür. Sie warten fieberhaft, dass sie die Schwelle der Marktreife übertreten dürfen. Das nennt sich dann „Der neue Mensch“ oder auch „Mensch 2.0“. Dahinter ragen Begriffe auf wie „Human Enhancement“, „Cyborg“, „Whole Brain Emulation“ „Neuro-Enhancement“ — künstliche Intelligenz und Roboter sind ihre Glaubensbekenntnisse. Wir wohnen staunend und schweigend einem epochalen Technologiesprung bei.
Obwohl Demenz so verteufelt wird, ist sie in vielen Fällen sogar der Ausgangspunkt für eine effektivere Forschung, dass nicht noch mehr dement werden mögen. Umschrieben wird das mit dem Wunsch nach möglichst langer autonomer Lebensführung in den eigenen vier Wänden. Zu teuer ist die Krankheit für die Sozialkassen – auch wenn ein regelrechter Wachstumsmarkt entstanden ist, an dem Wenige mit der Pflegenot anderer Viel verdienen. Wohin mit Omi, wenn sie ständig wegläuft? Da bleibt am Ende nur ein Heim, osteuropäisch ausgebeutete Pflegekräfte – oder die Technik.
Diese disruptiven technologischen Veränderungen, also solche, die Traditionelles rigoros über Bord werfen und auf der Klaviatur des Kapitalismus spielen, die uns alle zu Marktteilnehmern gebunden an Angebot und Nachfrage koppeln, betreffen sowohl den direkt Erkrankten als auch Pflegekräfte, den pflegenden und betreuenden Angehörigen und auch die Art und Weise, wie Städte sich auf eine alternde Gesellschaft einstellen. Ach was, unsere gesamte Gesellschaft wird umgekrempelt. Technische Innovationen setzen sich immer durch, wenn sie das Leben angenehmer machen. Wenn sie Erleichterungen mit sich bringen. Es geht um die ethisch-moralische Vorstellung der „Meliorisierung“, einer grundsätzlichen Verbesserung des Lebens. Und des Menschen insgesamt.
Mehr demnächst.