Wegsperren ist nicht die Lösung. Pflege in Zeiten von Corona

Es werden immer mehr Tage, an denen ich sie nicht besuchen darf. Meine Angehörige lebt im fünften Jahr in einer Demenz-Wohngemeinschaft. Ein Besuch bei ihr steht gesetzlich unter Strafe. So bleiben mir lediglich Anrufe im Heim, ob es ihr gut geht. So bleiben mit nur alle vier Tage die kurzen Videoanrufe, in denen ich sie in Bewegtbildern sehen kann. Der Rest ist Schweigen und bleibt eine Black-Box. Ich kann nicht ins Heim hineinschauen. So wie mir geht es vielen Angehörigen.

 

Wie lange dieser Zustand anhält – wir wissen es nicht.

 

 

Ja, es geht ihr gut, sagen die Pflegerinnen und Pfleger. Wir verabreden uns jedesmal für einen Videocall, so, dass es in den Ablaufplan im Heim passt. Es muss die Technik vorhanden sein, es braucht eine Pflegekraft, die diese bedienen kann, Videoanruf starten – und auch wieder beenden. Das ist zusätzlicher Aufwand, aber in diesen Tagen der physischen Distanzgebote lebensnotwendig.

Wenn WhatsApp bei mir anklopft und ich sehe, das Heim ist dran, freue ich mich. Aber zunächst taucht da eine Pflegerin mit Maske im Bild auf. „Ich reiche mal weiter“, heißt es. Kurz flackern Filmsequenzen an mir vorbei, ich sehe den Haaransatz der Pflegerin, die Decke, die Deckenleuchte, dann einige Lichtreflexe und plötzlich: sie in ihrem zartrosa Pullover mit den kleinen Glitzersteinchen drauf. Es ist ihr Lieblingspullover.

Ja, ich sehe sie im Video lächeln. Sie erkennt mich in diesem Tablet-Display nur dann als Person, wenn ich winke – oder mich auffällig bewege. Sonst sieht sie mich als Standbild – und glaubt, ich bin ein Foto. Wenn ich zu sprechen beginne, lacht sie, freut sich, erkennt mich. Es entwickelt sich jedes Mal ein Gespräch mit fast identischem Inhalt.

Ich frage: „Hallo meine Liebe, weißt du, wer hier ist?“

Sie: „Ja, du.“

Ich: „Ja, prima. Und wie heiße ich?“

Sie: „Du bist Anna“. (So nennt sie mich immer.) Aber ob sie mich nach so langer Zeit auch wieder erkennt, ist jedesmal fraglich.

Ich: „Geht es dir gut?“

Sie: „Ja, danke der Nachfrage.“

Ich: „Hast Du schon Kaffee gehabt?“

Sie: „Ja, sicherlich.“

Ich: „Und, war der Kuchen lecker?“

Sie: „Welcher Kuchen?“

Ich: „Na der von heute Nachmittag.“

Sie: „Ach so.“

Ich: „War der gut?“

Sie: „Hervorragend.“

Und dann winken wir. Ich gebe den Takt vor, winke ganz doll, damit ich lebendig wirke und wiederhole „Hallo, meine Liebe, schön, dich zu sehen.“ Sie winkt zurück und antwortet ganz passend „ich winke“.

Nach ein paar Minuten ist die Konzentration dahin. Normalerweise könnte ich sie jetzt an die Hand nehmen, sie umarmen, oder direkt vor ihr sitzen und auf den noch nicht ganz aufgegessenen Kuchen hinweisen. Aber alles das geht nicht. Sie sitzt am Tisch im Heim. Ich sitze auf dem Sofa bei mir daheim. Uns trennen zwei Ortsteile und eine vierspurige Umgehungsstraße. Wir führen eine Fernbeziehung. In der sind Gefühle via Video nur sehr schwer aufzubauen. In der Betreuung von Menschen mit Demenz ist aber das ganz besonders gefragt. Ist oft der letzte Bodensatz an Verbindung: das Fühlen und Berühren. Kein Null und Eins kann das bisher ersetzen. Meine Hoffnung auf Digitales als Brückenschlag erhält nach den Wochen des Erlebten und der Erfahrung damit einen Dämpfer. Technik ist nichts ohne Soziales. Es bleibt an dieser Stelle kalt, weil die Kommunikation zwischen Sender und Empfänger eh schon gestört ist und das Fehlen des direkten Erleben noch krasser spürbar macht.

Wenn wir den Videocall beenden (ich rufe dann jedesmal laut ins Phone – hallo? kann das mal jemand jetzt ausmachen?), frage ich mich jedesmal, wie lange das wohl noch gut geht? Sie schwächelt in ihrem Sein – und ich habe Angst, nicht für sie da sein zu können – so, wie ich das die letzten neun Jahre gewohnt bin. Sie ist am Lebensende. Und hätte sich sicher nicht im Traum gedacht, dass dann ihre Bezugsmenschen nicht um sie sein dürfen. Es wäre bis vor Corona dystopisch gewesen.

 

Wie es weitergeht….

 

Wir werden über kurz oder lang eine sehr aufwühlende Diskussion führen müssen. Wir alle. Die da heißt: Was sind uns die Älteren, Hochbetagten, also die Risikogruppen des Coronavirus eigentlich wert? Sind sie es wert, dass die Weltwirtschaft, die nationale, die lokale Wirtschaft in die Knie geht? Sind sie die vielen zu erwartenden Pleiten wert? Sind sie die Ungleichheit wert, die Entbehrungen und soziale Abgeschnittenheit, die vor allem die Kinder spüren? Sind sie der Grund für ein Desaster an finanzieller Abwärtsfahrten vieler Familien und Beschäftigten?

Wäre es besser, die Alten weg zu sperren – so dass der „Rest“ zurückkehre in ein „normales Leben“ – mit überschaubarem Risiko und unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen?

Erste Stimmen werden laut, wie etwa gerade ganz grob der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer, der davon spricht in der Welt davon „wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Er erntet heftige Kritik aus allen Lagern, von „Sozialdarwinist“ bis hin zu das ist „menschenverachtend“.

Und doch bleibt die Frage offen, egal, wie aufwühlend sie ist.

Wenn es schon schwer ist für die normale menschliche Gemeinschaft, sich nicht zu sehen, sich nicht auf Tuchfühlung zu begegnen, so ist es das in der Beziehung zu Älteren in den Heimen um so schwieriger. Niemand möchte am Ende des Lebens einsam und weggesperrt auf den Tod warten oder sterben. Aber das ist leider aktuell der Fall. Ich für meinen Fall halte mich erstmal ans Besuchsverbot. Ich will sie nicht gefährden. Die Verantwortung liegt auch darin, die anderen Heimbewohner zu schützen, ich könnte ein potentieller Überbringer sein. Ich will keine Schuld auf mich laden. Aber sollen wir Angehörigen dieses Besuchsverbot einhalten, bis unsere Heimbewohner gestorben sind? Wohl kaum. Wir sind sehr bald gezwungen, abzuwägen zwischen dem Risiko des Todes oder dem Wunsch, menschlich zu bleiben.

Die Vorsicht wird nicht ewig dauern können.

Vorschläge sind gefragt. Ideen, wie der menschliche Kontakt wieder aufgenommen werden kann. Auch als völlig vermummter Mensch wären wir für die Heimbewohner eine Zumutung, denn sie würden uns nicht erkennen. (Das ist schon so, wenn normale Quarantäne erforderlich ist, etwa bei Grippe oder Noro-Virus.)

Menschenleere Orte – das kann nicht die Zukunft sein. Also: Wir müssen uns wieder mit dem Sterben in Würde befassen. Ist längst überfällig, weil schon so lange nur mit Unwillen diskutiert – oder gar nicht. Der Gesprächsbedarf über das Lebensende aber ist da. Tod gehört zum Leben dazu. Und Menschen sterben. Auch das zeigt Corona. Nur wie, das müssen wir besprechen.

 

 

Menschenleere Orte – Dystopie oder unsere Zukunft?

 

 

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