Hier ´ne Gurke, da eine Bratwurst, dort ein Platz

Wir erleben einen kollektiven Aufschrei in der Bevölkerung im Kreis Gütersloh – angesichts der rasanten Ausbreitung des Corona-Virus im größten europäischen Schlachtbetrieb Tönnies mit der derzeit knapp 1.700 Infizierten. Und seit heute gibt es einen Lockdown für die Region. Corona enthüllt nun menschenfeindliche Strukturen und kranke Geschäftsmodelle in der neokapitalistischen Arbeitswelt, die seit langem bekannt sind. Zumindest die Bevölkerung im Kreis Gütersloh weiß Bescheid um die katastrophalen Zustände der Werksarbeitnehmer, der drangsalierten Wohnverhältnisse, der Zerstückelung von täglich 30.000 Schweinen und einer damit einhergehenden Verrohung von Beziehungen zur Natur.

 

 

Verwaltungstechnisch erleben wir den Super-Gau. Staatliche Vorausschau ist sichtlich Mangelware, das Abarbeiten der notwendigen Aufträge wie Testungen, Kontrolle, Konzeption, Vorsichtsmaßnahmen finden offenbar nur mangelhaft statt. Die Kreisverwaltung vor allem mit seiner Verwaltungs-Spitze Landrat Sven-Georg Adenauer hinterlassen nach jeder weiteren Pressekonferenz ein Gefühl der Ahnungslosigkeit, der Inkompetenz und der ständigen Überforderung. Ein Landrat, der spricht wie ein Unbeteiligter von nebenan, mit der Hand in der Hosentasche, lässig und in einem Jargon als trüge nicht er die Verantwortung, sondern kommentiere sie nur.

Ein Landrat, der sagt, die Kontrolle der Quarantäne sei was wie ein „Flohzirkus“ zu hüten – und spricht damit in wiederholt rassistischer Form über Wanderarbeiter aus Rumänen, Polen und Bulgarien. Noch ein paar Tage zuvor folgte er der Argumentationsstrecke der Firma Tönnies, die Mitarbeiter hätten sich im Heimaturlaub angesteckt und brächten nun das Corona-Virus mit ins Unternehmen. Was selbst die Botschaften der betroffenen Länder auf die Barrikaden gebracht hat.

Politisch erleben wir ein Aufbrausen eines Kanons an Buh-Rufen, aus der Kirche (Anette Kurschus), der Gewerkschaft (Anke Unger), der Oppositionspolitik (SPD, Grüne).  Auch der Arbeits- und Gesundheitsminister des Landes NRW Karl-Josef Laumann (CDU) erklärt, wie lange er schon gegen das System der Werksarbeitsverhältnisse kämpfe, vergebens. (Siehe „Hart aber fair vom 22.6.2020)

Politik und Verwaltung zeigen sich also nackig. Sie tragen keine Kleider.

 

 

Daher braucht es einen anderen Fokus auf die Geschehnisse: Wie kann es sein, dass solche krassen Verhältnisse so lange Bestand haben konnten? Und wir sehen wahrscheinlich nur einen Bruchteil von dem, was noch an Unrecht etabliert scheint: nicht gemeldete weitere Arbeitnehmer, Verschickung von einem Schlachthof zum anderen, Prostitution, Frauenhandel. Es ist offenbar ein mafiöses System von Abhängigkeiten entstanden.

Man kann Verantwortliche benennen: Neben dem Firmenchef Clemens Tönnies sind das auch Verantwortliche aus Politik und Verwaltung, die ihre Positionen nicht genutzt haben, um im Sinne des Gemeinwohl und im Sinne des Wohls der Geschundenen zu handeln. Hinschauen, wissen – und resignierend die Situation laufen lassen, sind keine guten Instrumente in diesen Positionen. Aber offenbar sind sie seit Jahren Standard.

Das liegt auch an dem System „eine Hand wäscht die andere“ – das ist die zweite Variante, die des aktiven Manifestierens solcher Zustände durch Ausnutzen der eigenen Position und der regelrechten Formulierung eines „hidden“ politischen Willens Hier ´ne Gurke, die aus der Landrat-Adenauer-Herstellung im Werksverkauf von Tönnies angeboten wird. Dort ´ne Bratwurst oder eine Einladung zum sommerlichen Grillabend, dort ein gesponserter Platz, ein gesponserter Gefallen für die Stadt, eine Gabe Geld für sonstwas – oder auch mal ein paar Tausend Euro in den Topf von Parteien (hier der CDU) -immer nur so viel, dass es nicht anzumelden war aber reichte, um im Netz der Gefallen gefangen zu sein. Das rächt sich, denn dann ist man als Gewählter mundtot. Politik degeneriert zur Ware und entfernt sich von den Menschen.

 

 

Foto: Jürgen Zimmermann

 

 

So entstanden Seilschaften und Abhängigkeiten. Auch die langen Mandatszeiten, die langen Amtszeiten und die Ewigkeitszuständigkeit von Behörden tun ihr Übriges hinzu, so dass ein komplexes Geflecht von Abhängigkeiten und Verpflichtungen entstehen kann.

Wir brauchen ein Lobby- und Verflechtungsregister auch auf kommunaler Ebene. Die Bevölkerung weiß schon um viele dieser informellen Zugänge Bescheid – man müsste es einfach in einem Schaubild festhalten, das allen zugänglich ist. Oder auch die Kalender der entsprechenden Amtspersonen müssen Termine und Kontakte mit den jeweiligen Potentaten in der Region transparent ausweisen: Wer war wann mit wem auf welchem Fest, hat gemeinsam Kaffee getrunken, ist miteinander auf eine Reise gegangen  – oder hat den Geburtstag gemeinsam gefeiert?

Gleichermaßen sollten wir darüber nachdenken, die Ausübung von Amt und Mandat zu verkürzen. Zwei Wahlperioden müssen reichen, um dann erstmal wieder Abstand zu gewinnen, der es ermöglicht, dass Seilschaften dieser Art weniger tragfähig sind.

Eine Region wie der wohlhabende Kreis Gütersloh ist sicher nur ein Brennglas für dieses System, das sich überall findet. Nur ist ein System an Seilschaften weniger Gönner und Entscheider in einer Zeit von Pandemien, Klimanotstand und digitaler Transformation, also in besonderen Wendepunktzeiten, nicht mehr tragfähig zur Lösung und Begleitung der Herausforderungen, die auf uns warten: Demographie, Klimakollaps, Veränderung von Lebens- und Arbeitsgewohnheiten, Zusammenleben in Solidarität und Vielfalt in Europa. Vor allem füllen Populisten und Faschisten dieses Lücke, das führt zum Tod der Demokratie.

Wir brauchen eine Vitalisierung demokratischer Prozesse mit mehr Offenheit, Transparenz und vor allem Partizipation der Vielen in Vielfalt. Dass es die Vielen gibt, die auch Konzepte und konstruktive Kritik mitbringen, hat der Kreis Gütersloh mit seiner aktiven Zivilgesellschaft bereits mehrfach gezeigt. Die Proteste gegen Tönnies haben eine lange Tradition. Nur leider verpuffen diese zivilgesellschaftlichen Bewegungen vor der Tragfähigkeit und Festigkeit von Filz und Korruption.

 

 

Vielleicht hat Corona das Zeug dazu, diese kranke Verkrustung nachhaltig zu sprengen. Das wäre gut für uns alle, Mensch und Tier.

 

 

 

 

 

 

 

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