Digitaler Lifestyle in einem ganzen Land

Estonia, also Estland, traut sich was. Das nördliche EU-Land lebt einen digitalen Lifestyle und erfindet sich und seine digitalen Möglichkeiten ständig neu. In Deutschland ist das anders. Deutschland belegt Platz 9 im EU Digitalbericht 2016. Das ist gutes Mittelfeld.

Das Foto zeigt die Flagge von Estland vor blauem Himmel.
Estonia – digitales Land

Ich bin mit dem Team von @SmartCountryDE der Bertelsmann Stiftung auf einer Studienreise in Estland. Estland gilt als „das“ Digitalland Europas. Wir suchen nach guten Beispielen, wie digitale Strategien ein Land in der Fläche zu einem smarten Ort macht. Auf dem Zettel der Glanzleistungen in Estland ganz oben stehen vorbildliche Anwendungen für das E-Government bis hin zu flächendeckender Versorgung mit WIFI sowie der schnellste Weg, eine eigene Firma zu gründen. Das dauert nach der Statistik in Estland nur ganze 18 Minuten. Estland bietet zudem die digitale E-Residency, eine digitale Existenz für Bürger weltweit. Alles Gründe genug, sich einmal vor Ort anzuschauen, was genau das Erfolgsrezept von Estland ist – und was davon nach Deutschland übertragbar ist. Am Ende geht es darum, Teilhabe zu ermöglichen und zu erhalten.

Digital-Tourismus 

Digitalisierung scheint ein Exportschlager zu sein. Gepaart mit dem Fakt, dass im kommenden Jahr in Deutschland die Bundestagswahlen stattfindet und zudem eine richtungsweisende Landtagswahl in NRW ansteht, erklärt sich, warum sich gerade deutsche politische Delegationen die Klinke in die Hand geben, wenn die einen den Showroom von e-Estonia betreten und die anderen hinausgehen. Experten der Digitalausschusses waren schon hier, kürzlich war Armin Laschet (CDU NRW und stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU) vor Ort, am Ende dieser Woche reist die NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft an, ihre Staatskanzlei postet derweil Flugbilder.

Gerade gestern hat sich die Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen einer Klausurtagung des Kabinetts mit dem estnischen Ministerpräsident Taavi Rõivas getroffen. Inhalt: Fortschritte zur digitalen Agenda in Deutschland.

Mit dabei war auch Siim Sikkut, einer der digitalen Köpfe Estlands und digitaler Berater des Präsidenten. Einer, der schon bewiesen hat, dass er digital denken und handeln kann. Er ist auch ein Experte für e-Government. Ohne schon in diesem Blogpost auf die vielen Vorzüge Estlands einzugehen, mal an dieser Stelle ein kurzes Fazit: Sikkuts Ziel wäre, Government unsichtbar zu machen. Alle notwendigen Angelegenheiten sollen für die Menschen im Land so clever und simpel geregelt sein, dass sie leicht zugänglich sind, von jedem genutzt werden können, dies von der Wiege bis zur Bahre. Nur rund 4 Prozent der Menschen in Estland nutzen diese Services des E-Government nicht – sie sind analog. Wenn also rund 96 Prozent digital sind was staatliche Dienstleistungen (und sonstige Services angeht), ist das eine nationale Erfolgsstory, die nur von der Nachricht getoppt wird, dass 100 Prozent der Bevölkerung über einen Kühlschrank verfügen. Selbst der Taxifahrer erklärt mir die „Normalität“ des Digitalen in Estland als eben eine solche Natürlichkeit und verweis auf die gleiche Zahl der analogen Mitbürger, wie Sikkut sie nennt, um dann kein Bargeld anzunehmen, sondern nur meine Kreditkarte akzeptiert.

So dreht sich auch jede der Erfolgsgeschichten um eben eine einzige Karte, auf der alles gespeichert ist. Hier schon mal ein Bild von dem PlastikChipWunderDing, Details wie gesagt im nächsten Blogpost.

Das Foto zeigt eine Art EC_Karte, auf der alle Daten gespeichert sind.
eine Karte für alle Services

Wenn nun alle das Ziel verfolgen, von Estland zu lernen (es reisen auch andere Nationen hierher), muss man sich fragen, warum die Esten so erfolgreich sind in dem, was sie tun – und Deutschland seit langem schon den Anschluss verpasst hat (Glasfaser fast unbekannt) oder bestenfalls hinterherhinkt, Interaktion zwischen Staat und Bevölkerung ist weitestgehend analog und nur mit hohem bürokratischen Aufwand leistbar. Gerade wenn von E-Government die Rede ist, türmen sich die Fragen nach dem Grund des Scheiterns auf wie die Wolken über der Küste von Estland.

Hier vor Ort wird klar: Digitalisierung und die sich daraus ableitenden Möglichkeiten digitale Services zu entwickeln und dabei den Menschen und seine Notwendigkeiten in den Mittelpunkt zu stellen, ist keinesfalls nur eine Frage der Technik.

Digitale Transformation und digitale Services sind eine Frage der Haltung und der Veränderung der Prozesse und des Zugangs. Eine Form der Hierarchieverschiebung, eine Frage der Transparenz, eine Frage der Ausrichtung auf die Bedarfe der Menschen. Und am Ende schlicht auch eine, wie künftig Geld verdient wird, wenn die Wissens- und Informationsgesellschaft sich über Nacht Bahn bricht. Moore´s Law spricht von exponentieller Beschleunigung. Estland hat die neuen Formen gemeinsam entwickelt, gemeinsam ermöglicht. Estland hat sich zum Ziel gesetzt, auf lange Sicht 1 Millionen E-Residents nach Estland zu holen – kurz blitzt auch die Zahl mit einer weiteren Null daran auf. Über 100.000 sind es schon. Angesprochen werden die neuen Kreativen, die neuen Wertschöpfer, denen es egal ist, ob sie nun in Timmendorfer Strand sitzen oder in HongKong wirken, sie aber einen Ort suchen, an dem die „Firma“ residiert und das eben virtuell möglich ist. Estland schafft das. Estland bindet damit langfristig den Rohstoff an sich, der bald (und schon jetzt) gebraucht wird, nämlich Kreativität und Flexibilität. Anderen Ländern gelingt das nicht.

Selbstverständlich muss man schauen, dass Estland ein Land mit rund 1,2 Millionen Einwohnern ist, also überschaubar. Und erst sei 1991 in der Unabhängigkeit lebt. Beim Neustart die Restbestände einer russischen Mangelwirtschaft vorfand aber junge quirlige Leute hatte. Dazu jedoch einen mächtigen Nachbarn Russland hat, der immer wieder die Keule schwingt und bedrohlich nahe kommt, symbolisch und faktisch. Cyberattacken nicht ausgenommen. Die Besatzungszeit ist in Estland nicht vergessen. Sie ist real immer vorhanden, die Gefahr, wieder annektiert zu werden, ist präsent. Die Esten müssen intelligent sein, um zu überleben und ihre Freiheit zu bewahren, das schafft Möglichkeiten.

Deutschland hat keinen Feind an seinen Grenzen. Wohl aber muss sich Deutschland um seine Prosperität sorgen, um den Erhalt oder gar Ausbau des Lebensqualität, der längst schon nicht mehr alle erreicht. Die Ausgangslagen der Länder sind unterschiedlich, die Zukunft aber ähnlich: wie die Chancen der Digitalisierung nutzen, zum Wohle der Menschen? Liegt Deutschland jetzt schon auf Platz 9, ist der Erhalt kaum möglich, angesichts der Tatsache, dass eine tragfähige digitale Infrastruktur nicht über Nacht wächst und mit Kupferkabel längst das falsche Medium in den Einsatz gebracht wird.

Wenn die Delegationen hier Antworten darauf finden, hoffe ich, dass sie diese nicht behandeln wie ein Souvenir, welches ausgepackt aus dem Koffer lediglich im Regal verstaubt. In Vorwahlzeiten könnte Estland auch ein Ausflug und damit Alibi sein für vorgetäuschte Beweglichkeit im Mindset. Die Vorteile Estlands könnten zuhause auch schnell vom Positiven ins Negative gedreht werden, um in Deutschland im analogen Modus zu verbleiben. Nach dem Motto: Ja, aber wir hier sind ganz anders….

Digitales aus Estland ist jedenfalls ein Exportschlager: wie geht digital und wie geht es gemeinsam mit den Menschen, nicht von oben herab und auch nicht ohne die Bedarfe zu kennen. Wer diese neuen digitalen Lebensformen nicht versteht oder nicht annehmen will, darf sich nicht wundern, wenn die Zivilgesellschaft im eigenen Land nicht wartet, sondern schon mal in anderen Feldern der privaten Lebensorganisation digital vorausgeht. Damit aber zeigt sich der Staat langfristig als unfähig zu Wandlung und Meisterung seiner Kernaufgaben. Mit einer Politik 1.0 sind politische Entscheidungen hinfällig und undemokratische Schreihälse besetzen Themen und füllen sie mit nationalistischen Inhalten. Selbst digital wird so auf national gestutzt.

Keine Frage, in den digitalen Services des Staates als ein fester Bestandteil der Politik 2.0 sehe ich eine Chance. Eine Chance für Menschen, Demokratie und Lebensqualität. Ich nehme aus Estland mit den Beweis, dass es digitale Treiber braucht und dass Veränderung möglich ist.

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